Big, bigger, Barcelona...

04.01.2008 - Julia Macher - Journalistin 

Kürzlich erhielt ich einen Anruf von einem Freund aus Berlin. Er habe in einem Life-Style-Magazin gelesen, dass es in Barcelona das größte... Weiter kam er nicht, ich musste ihn unterbrechen. Denn sobald jemand "Barcelona" und Adjektive mit der Steigerungsendung "...te" in einen Satz packt, reagiere ich allergisch - eine Reaktion auf die seit Jahren grassierende Superlativitis barcelonensis. Ich kann es einfach nicht mehr hören: Egal was passiert, in Barcelona wird jedes Ereignis mit Superlativen bespickt, wenn möglich zum Trend ausgerufen und verkaufsfördernd eingesetzt.

Barcelona hat den größten Nespresso-Flagship-Store (am Passeig de Gracia) und den weitläufigsten öffentlichen Platz (am Forum, größer als der Platz vorm Petersdom!). Es ist zwar nicht die erste, dafür aber die allerschönste europäische Stadt, in der Woody Allen jemals einen Film gedreht hat! Außerdem brodelt dank Sònar und Manu Chao die Musikszene (Stilrichtung Elektronische Musik bzw. Mestizaje)! Dank Custo boomt die Modeszene (Unterdisziplin bunte T-Shirts)! Und der beste Koch der Welt hat nicht nur die spanische, die europäische, sondern gleich die Gastronomie weltweit revolutioniert (Unternehmen Ferran Adria)!

Die Werbefachleute der Stadt müssten eigentlich schon längst heiser sein, aber sie schreien munter weiter und haben inzwischen auch alle anderen infiziert: In Barcelona ist jedes Festival grundsätzlich wahlweise das europaweit erste, größte oder innovativste seiner Art, ganz egal ob es im CCCB oder in einem privaten Kulturverein irgendwo in Gràcia stattfindet. Sämtliche Gastronomen sind zu Dichtern geworden und preisen noch in den mittelmäßigsten Abfütterungsbetrieben ihre ensalada verde aus der Tüte als Komposition verschiedenfarbiger Blattsalate an einer Olivenöl-Modena-Vinaigrette an.

Selbst die Subkultur hat die klassischen Marketingstrategien verinnerlicht. In Can Masdeu, einem der berühmtesten besetzten Häuser der Stadt, heißt ein Schild Besucher auf fünf verschiedenen Sprachen willkommen, auf Spanisch, Katalanisch, Deutsch, Englisch und Französisch. Am Wochenende gibt es regelmäßige touristische Führungen, anschließend können Besucher im hauseigenen Souvenirshop ein Soli-T-Shirt als Andenken kaufen. Erwähnte ich, dass Barcelona die lebendigste Hausbesetzerszene Europas hat?

Die Penetranz, mit der an allen Fronten Marketing betrieben wird, nervt gewaltig. Noch mehr ärgert mich allerdings, dass es funktioniert - wo man doch gerade in Barcelona wirklich nicht lange an der Oberfläche kratzen muss, um zu erkennen, dass nicht allzu viel drunter ist: Die Künstler kehren der Stadt wegen der teuren Mietpreise und komplizierten Fördersysteme seit Jahren den Rücken und ziehen ins Umland oder nach Berlin; die spannendsten Kunstprojekte der letzten Jahre entstanden an der Peripherie (zum Beispiel in León oder Gijón).

Im letzten Jahr hat ein halbes Dutzend Klubs wegen der rigiden Lärmbestimmungen dichtgemacht; Straßenmusiker werden - selbst wenn sie so klingen wie Manu Chao - zum Teil mit drakonischen Strafen belegt. In Sachen Mode hat Madrid Barcelona schon längst den Rang abgelaufen und in meinem Viertel gibt es kaum ein Restaurant mehr, das keinen Tütensalat serviert. Deswegen reagiere ich etwas allergisch, wenn mich jemand beneidet, weil ich in der schönsten, aufregendsten und spannendsten Metropole wohne.

Dabei mag ich Barcelona wirklich ganz gern - und das nicht nur, weil mir anderswo das pa amb tomàquet fehlen würde: Barcelona hat ausgesprochen hübsche Ecken, nette Cafés, gute Kinos und ein paar sehr engagierte Kulturarbeiter. Im Zentrum ist alles gut zu Fuß zu erreichen und, ja, auch das Wetter ist meist stimmungsfördernd. Allerdings: Wenn Barcelona nicht ganz so marktschreierisch wäre, ein klein wenig bescheidener aufträte, würde es mir hier noch besser gefallen. Das wäre doch ein erstrebenswertes Superlativ: Barcelona - die bescheidenste Mittelmeermetropole Europas.

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