Democracia real ya - wichtig, aber nicht alles

09.06.2011 - Stefanie Claudia Müller, scm-communication.com  

Die Proteste spanischer Jugendlicher und vieler Menschen in Barcelona, Madrid und Valencia, die genug haben von Profitgier, Korruption und einer parteiischen Justiz – alle gesammelt in der Protestbewegung “Democracia real ya” - sind ein wohltuender Anfang der Demokratisierung der seit zehn Jahren fast schlafenden neureichen spanischen Gesellschaft. Die Spanier wurden vor 35 Jahren sozusagen in die Demokratie geschubst, ein von Francos Gnaden eingesetztes und vom König Juan Carlos, auch aus Pragmatismus, verteidigtes System.

Zwischen 1975 und 1980 wurde nicht viel diskutiert, welche Demokratie Spanien braucht und was falsch gelaufen ist in der eigenen Geschichte. Der König und die Übergangsregierung wollte keine alten Wunden aufreissen, sondern eine transición einleiten, einen friedlichen Übergang eines autoritären Regimes in ein freiheitliches System. Somit wurde auch die spanische Justiz und Politik nicht gesäubert von Franco-Anhängern, die Statuen zu seinen Ehren wurden nicht entfernt.

Der dann lange regierende Premier Felipe González wollte nicht einen neuen Konflikt zwischen Republikanern, rojos und Nationalisten, den Franco-Anhängern, hinaufbeschwören. Spanien trat somit ohne Vergangenheitsbewältigung in die Europäische Union ein, wurde jedes Jahr sichtlich reicher und stellte sich nicht mehr viele Fragen darüber, warum. In der Schule sprach man nicht über Bürgerkrieg und Diktatur, zumindest außerhalb von Katalonien und dem Baskenland.

Dann endlich kam 1996 auch eine neue Regierung an die Macht, die Konservativen, die Partido Popular, wo sich auch viele Franco-Anhänger und sogar ein ehemaliger Minister des Diktators, Manuel Fraga, zuhause fühlten. Spanien wurde unter der Regierung von José María Aznar mit zunehmend schnellem Tempo reich und viele Spanier machten ein regelrechtes Vermögen mit dem Kauf und Verkauf von Appartments.

Porsche und BMWs überschwemmten die Madrider Straßen. Spanische Banken und die Regierung rieben sich die Hände. Es schien alles so einfach. Spanien wurde beflügelt, galt als Vorzeige-Ökonomie. Rasant nahm aber auch die Schattenwirtschaft zu und die Schmiergeldzahlungen zwischen Gemeinden und Bauträgern.

Dass ein Teil der spanischen Bevölkerung jetzt wirkliche Demokratie fordert - die Übersetzung von “Democracia Real Ya” - scheint deswegen logisch, aber fehlende Demokratie ist nicht das wirkliche Problem Spaniens. Mit mehr Transparenz und Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger sind die soziostrukturellen und wirtschaftlichen Probleme dieses Landes nicht behoben. “Die Spanier, vor allem die Unternehmen, müssen komplett umdenken und in ihre Angestellten investieren statt sie auszusaugen. Es muss aber auch in der Gesamtbevölkerung ein Mentalitätswandel stattfinden”, fordert Santiago García Echevarria, Wirtschafts- und Politik-Professor an der Universität von Alcala bei Madrid.

Auch die Familien müssten ihre Einstellung ändern. Die Spanier sind ein fröhliches und liebenswertes Volk, aber viele, und auch gerade die Jugendlichen, haben nach dem Immobilienboom nicht richtig verstanden, dass man Geld nicht nur durch Spekulieren mit Wohnungen verdient, sondern mit arbeiten, und zwar ein im globalen Wettbewerb immer härteres Arbeiten.

“Die von den spanischen Banken und Sparkassen fast ohne Risikobewertung vergebenen Hypotheken und Konsumkredite haben den Spaniern den Eindruck vermittelt, dass man alles haben kann. Niemand hat mehr daran gedacht, wo der Reichtum eigentlich herkommt: nämlich nur von der Spekulation mit unserem Grund und Boden. Wir haben diese Krise wirklich verdient”, glaubt der 36jährige Borja Mateo, der das Buch “La verdad sobre el mercado inmobiliario” geschrieben hat, das jetzt schon in seiner vierten Auflage erscheint.

Dass man, um Arbeit zu finden, auch mal in einer anderen Stadt leben muss, fern von den Eltern, hätten viele seiner Altersgenossen nicht verstanden. Mateo kommt aus dem Baskenland, er hat in Deutschland gelebt und jetzt arbeitet er in London. Er kann nicht richtig nachvollziehen, dass “Democracía real ya” versucht, eine globale Bewegung zu werden, und in London und anderen Städten zur Revolte aufruft, wo doch vor der Haustür soviele Probleme sind, die mit dem globalen System wenig zu tun haben, sondern mit einer “unverantwortlichen Profitgier aller Spanier und einer unglaublichen Bequemlichkeit”.

Diese hat auch das Ausbildungssystem erfasst, wo nur noch auswendig gelernt werden, aber nicht mehr nachgedacht. Ein Heer von Theoretikern entsteht, welche wenig neue Ideen in die Wirtschaft einbringen. “Wir brauchen unbedingt ein duales Ausbildungssystem wie Deutschland es hat. Wir brauchen weniger Akademiker und mehr praktisch denkende Menschen”, sagt Uni-Professor García Echevarria. Eine Elterninitiative "Otra escueal es posible" versucht unparteiisch aber praktisch, das verstaubte Bildungssystem von unten zu revolutionieren.

Wenn der gesellschaftliche Wandel, der ja auch von “Democracias Real Ya” gefordert wird, nicht beginnt, dann werden immer mehr international denkende und talentierte Spanier ins Ausland gehen und der Ausweg aus der Krise wird noch länger dauern. Zu den flüchtenden Spaniern gehört auch der 20jährige José Parra. Er studiert seit zwei Jahren in der Schweiz und glaubt, dass er dort besser aufgehoben ist, weil er in den Sommerferien gute Jobs bekommt und sogar neben dem Studium Geld verdienen kann, bei einem Job, der ihm später etwas bringt. Er arbeitet für eine Unternehmensberatung: “In Spanien machen das nur wenige. Hier werden vor allem am Wochenende Saufgelage organisiert. Viele Studenten wissen doch gar nicht, warum sie überhaupt in der Uni sind.”

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