Ein Stück Kultur als perfides Spiel mit dem Tod

29.07.2010 - Sophie Hellriegel - Praktikantin  

...der erste Stier kommt in die Arena. Er ist schwarz, er ist schön, und bald wird er tot sein. Er hat keine Chance. Er stürmt über den Sand wie in die Freiheit. Er stutzt, er möchte zurück in den Stall, er will zurück auf die Weide, er sucht den Ausgang aus der Arena des Todes, er möchte das Leben wählen.“ Wolfgang Koeppen ist einer von vielen Schriftstellern, die in ihren Reisebeschreibungen für den Stier Partei ergreifen. Auch Egon Erwin Kisch bringt die Enttäuschung des Stiers über die menschliche Fiesta sarkastisch zum Ausdruck: „Natürlich, hab es mir gleich gedacht! Es ist keine Weide da. Nur ein kreisrunder Sandplatz. Kein grünes Gras, keine hübsche Kuh – nichts.“ Was den Stier stattdessen erwartet?

Seitdem ich eine Novillada mit sechs Jungstieren in der weltberühmten Arena Las Ventas gesehen habe, kann ich darauf antworten. Da gibt es zum einen die jungen Toreros, die mit Hilfe der Bewegung ihrer Capas (Capote) die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen, die Picadores, die dem Stier vom Pferd aus die ersten Verletzungen hinzufügen, die Banderillos, die ihm mit geübtem Sprung die Banderillas setzen und eine handvoll Helfer, die sobald es brenzlig wird, zusätzlich auf dem Platz herumopern. Der Sandplatz kann nahezu voll und hektisch sein, im nächsten Moment wie leer gefegt – nur Stier und Torero stehen sich schnaufend gegenüber.

Zum anderen gibt es das Publikum. Madrids Las Ventas fasst, laut Touri-Guide, der seine Führungen auf Spanisch und Englisch anbietet, um die 24.000 Plätze und ist somit die größte Arena Spaniens. Mein erster Stierkampf war zwar gefüllt, aber noch lange nicht vollständig besetzt. Hinter mir, amerikanische Touristen, vor mir, alteingesessene Madrileños mit Stierkampf-Fanfare-Klingelton, der mehr als einmal läutete. Die Steinsitze sind hart und unbequem, die Plätze ziemlich billig (5 Euro, 3. Reihe/Sombra) und die Arena so dreckig wie die – nicht touristischen – Tapas-Bars. Sterilität ist auch gar nicht angebracht, denn das Blut des Stieres fließt ohnehin und wird nach jedem Kampf notdürftig weg geputzt.

Ich möchte herausfinden, was der Stierkampf für die spanische Kultur bedeutet.
Aktuell wird die fiesta nacional selber hart umkämpft. Es wimmelt nur so von Stierkampfgegnern, zahlreichen Foren, die verdeutlichen wollen, dass sie nicht gewillt sind diese Art von Fiesta zu unterstützen (z.B. auf Facebook: „No mi fiesta nacional“), Arenen werden geschlossen, weil sie nur selten ausverkauft sind. Es wird an einer der Grundfesten Spaniens gerüttelt. Die Region Katalonien hat ein Stierkampfverbot erlassen. Die Corrida de toros muss sich einmal mehr um ihrer selbst Willen rechtfertigen.
Dabei lässt sie sich doch eigentlich so herrlich vermarkten – überall prangert der Stier als Nationalsymbol auf Flaggen, Tassen, Stiften, Flaschen, Tüchern, Fächern und wo es nicht sonst noch Platz gibt. Hier und dort findet sich ein Torero-Plakat, Postkarten und Poster, auf denen man seinen eigenen Namen einsetzen lassen kann. Was für ein Geschenk!

Aber was verbirgt sich nun hinter dem Stierkampf?
Ist es bloß der Stolz einer männerdominierten Gesellschaft, die geil darauf ist, Stiere abzuschlachten? Nein.

Ich war überrascht, dass dem Stier in der Arena ein relativ kurzer Prozess gemacht wird. Dazu kommt noch, dass dies verhältnismäßig professionell geschieht.
Stolz, Mut und Erhabenheit (und in der Tat auch ein gewisser Frauenmangel) können sowohl Torero als auch Stier auszeichnen. Beide erscheinen zuweilen kraftvoll, elegant und stark. Rolf Neuhaus (Autor von Der Stierkampf. Eine Kulturgeschichte) beschreibt dies als eine Ästhetik des Tötens. Das Schreckliche wird durch Technik, Vernunft, Regel und Form in etwas Schönes transformiert.
Dem wird nicht jeder zustimmen. Spätestens dann, wenn sich die Toreros vor lauter Angst hinter den Burladeros verstecken und der Stier nach dem Todesstoß Blut spuckt, nimmt das Geschehen etwas ziemlich unästhetisches an. Man wird Zeuge einer kulturellen Tiertötung. Ist der Stierkampf etwa ein Gladiatorenkampf des 21. Jahrhunderts?

Es ist ein perfides Spiel mit dem Tod, das unlängst zu einem Teil der spanischen Kultur geworden ist und das nun aus politischen und tierrechtlichen Gründen abgeschafft werden soll. Demontieren die Spanier also gerade selbst eines ihrer identitätsstiftenden Kulturgüter? Oder verliert die „Kultur des Stierkampfes“ immer mehr Anhänger und wird deshalb bald den Stier durch eine Papierfigur ersetzen müssen, wie im Fall der Ziegen-Opferungen, die in der Provinz Zamora von Türmen geschmissen wurden.

Die Symbolik des Stieres reicht bis in die Frühzeit zurück. Zeus verwandelte sich in einen Stier, um Europa zu entführen, das Blut der Stiere galt als potenzsteigernd. Spanien hat diese Tiere für sich entdeckt, aus Hetzjagden in Schlachthäusern entwickelte sich ein professionelles Stiertöten. Beliebt und verabscheut zugleich.

Ich bin hin- und hergerissen. Versuche zu verstehen, welcher Wert dahinter steckt. Die Novillada war aufregend, die Stiere beeindruckend, die stolzen Bewegungen der Toreros markant, ihre Angst bisweilen spürbar, der Todeskampf traurig.
Und ich frage mich: bleibt der Stier immer noch ein Symbol Spaniens, auch ohne Torero?

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