Eine Radfahrerin, ein Fußgänger und ein Besserwisser

06.04.2016 - Karin Sommer 

Ich sehe den 140 Kilo Mann am Straßenrand stehen. Sein Ampelmännchen leuchtet rot. „Er schaut nicht nach links“, denke ich bestürzt, Sekunden bevor ich ihn näher kennenlerne.

 

Ich spüre ihn als von rechts kommende, gewaltige Masse, die mich fliegen und unsanft zuerst am Allerwertesten, und dann am unbehelmten Hinterkopf landen lässt.

 

Es dauert eine Zeit, bis ich die Orientierung wiederfinde und aufstehen kann. Ich drehe mich zu dem Mann, und höre mich mit seltsam ruhiger Stimme sagen „Sie müssen auch nach links schauen, bevor sie die Strasse überqueren.“ Er entschuldigt sich.

 

In diesem Moment verkündet jemand, dass ich mein Rad aus dem Weg schaffen soll. Die Stimme kommt von einem Mann, der alles ganz genau gesehen hat. Immer wieder beschreibt er, wie alles gelaufen ist und wer Schuld hatte. „Sie können ihn anzeigen.“, sagt er zu mir und deutet zu dem verloren wirkenden Dicken, der mich über den Haufen gefahren hat. „Ja natürlich, sie können mich anzeigen“, meint dieser jetzt auch noch, während ich zitternd versuche, den Boden unter meinen Füssen wieder zu finden. Der „Täter“ sieht aus, als hätte er keine Versicherung und kein Extrabudget für Schmerzensgeldzahlungen.

 

„Sie hätten allerdings auch besser reagieren können.“, meint der Klugscheißer jetzt an mich gerichtet. „Wahrscheinlich waren sie etwas unkonzentriert unterwegs.“, fügt er noch hinzu. „Ich habe nämlich genau gesehen, wie das kommen würde.“

 

Das war mir dann doch zuviel. „Das Letzte, das Menschen nach einem Unfall brauchen, sind Schuldzuweisungen“ sage ich zum Besserwisser und steige auf mein noch funktionsfähiges Vehikel und fahre davon. Immer noch mit Tränen in den Augen, immer noch nicht ganz klar im brummenden Schädel.

 

Fehler und Verletzungen entstehen fast immer durch Unachtsamkeit und Ignoranz. Wenn wir es besser wissen würden, würden wir anders handeln. Wir lernen aus Fehlern. Nach links schauen vor dem Überqueren der Strasse, auch wenn die Autos von rechts kommen, weil es Radwege gibt, die in Gegenrichtung angelegt sind; Helm aufsetzen und noch achtsamer sein in einer Stadt, in der Radfahrer immer noch eine kleine Gruppe sind, auf die wenig Rücksicht genommen wird.

 

Aber eines frage ich mich: Was lernen die Besserwisser, die, die alles so klar sehen; die, die wissen, wie´s geht; die, die´s anders, nämlich besser gemacht hätten. Oder brauchen die nichts lernen, weil sie die Weisheit mit dem Löffel gefressen haben?

 

*Karin Sommer ist Österreicherin und lebt seit 11 Jahren in Barcelona. Sie lehrt Menschen, ihr Leben mit Freude zu leben.
Mehr von ihr unter www.karinsommerbcn.com

Kommentare (0) :

Blog kommentieren
Blog-Archiv
  • 09.11.2020 [Kommentare: 2]

    Corona-Bombe

    „Kannst du Emma heute von der Schule abholen?”, erreichte mich unerwartet eine Nachricht von Emmas Vater Hugo, als ich erst gefühlte fünf Minuten im Büro war und noch nicht einmal ansatzweise ein Viertel meiner täglichen Festivalarbeit erledigt hatte.. Blog weiterlesen

  • 05.10.2020 [Kommentare: 0]

    Klassengesellschaft

    Neulich saßen wir mit unserem diesjährigen Festivalteam, das aus Luis, mir und drei Praktikanten besteht, in der Pause wieder in unserem Stammcafé in Alcalá, San Diego Coffee Corner, ein modernes Lokal an einer der Ecken der zentralen Plaza de los Ir.. Blog weiterlesen

  • 03.06.2020 [Kommentare: 0]

    Die Suche nach den Schuldigen

    Jetzt weiß ich, wieso ich während der Quarantäne nach Jahren endlich wieder gut und fest schlafen konnte, der Geräuschpegel war zehn Wochen lang deutlich niedriger. Am ersten Freitag in Phase 1 war wieder einiges los auf den Straßen Montecarmelos... Blog weiterlesen

  • 26.04.2019 [Kommentare: 0]

    Spanien bringt mich in Versuchung

    Schon seit fast einem Jahr bin ich zur vegetarischen Ernährung übergegangen, aus ethischen und ökologischen Gründen. Das heißt, ich versuche es zumindest. Mir war schon bewusst, dass es in Spanien etwas schwieriger werden würde – aber, dass ich so.. Blog weiterlesen

  • 04.02.2019 [Kommentare: 0]

    Die Chinos – eine Welt für sich

    Als ich neulich mit einer Freundin von Zuhause telefonierte, erwähnte ich beiläufig den Chino in meiner Straße. “Chino?” fragte sie. Ach ja – die Chinos haben wir ja in Deutschland gar nicht. Doch wie beschreibt man dieses “Phänomen” am besten? Die.. Blog weiterlesen

  • 14.01.2019 [Kommentare: 0]

    Es ist nie zu spät!

    Immer wieder die gleiche Diskussion: “¡A las 7 de la tarde no se cena!” – Um sieben Uhr nachmittags isst man noch kein Abendessen! “Ich hab aber jetzt schon Hunger!” “¡Es porque has comido hace horas!” - Du hast ja auch schon vor ‘ner Ewigkeit .. Blog weiterlesen

  • 08.08.2018 [Kommentare: 0]

    Im deutschen Exil – ganz scharf

    Manchmal lebt unsere Familie ja das deutsch-spanische Kauderwelsch. In sämtlichen Belangen. Sei es, dass der Nachwuchs sprachlich spanische Dörfer für mich auffährt: Papa, kannst Du mir endlich die Kuchenfarben bringen?? Was, wie?! [Papa sucht.. Blog weiterlesen

  • 04.07.2018 [Kommentare: 0]

    Von der WM zur Ahnenforschung

    Nach dem Ausscheiden der deutschen und nun der spanischen Nationalmannschaft wird es natürlich für unsere deutsch-spanische Familie ganz schwierig mit dem Weiterfiebern. Doch die Jungs halten ganz gut mit. Zu EM 2016-Zeiten nach dem Aus der Deutschen.. Blog weiterlesen

  • 27.11.2017 [Kommentare: 0]

    Rosamunde Pilcher im spanischen Fernsehen

    Als ich einmal an einem Nachmittag am Wochenende wahllos durch das spanische Fernsehprogramm zappe, werde ich plötzlich stutzig: Sind das nicht deutsche Schauspieler da auf dem Bildschirm? Heißt das etwa, dass ich mir gute deutsche Filme im.. Blog weiterlesen

  • 16.10.2017 [Kommentare: 0]

    Pendeln im Fernzug

    Es ist 06:42 Uhr und der Fernzug AVANT setzt seine Fahrt in Richtung Madrid nach einem kurzen Aufenthalt in Ciudad Real fort. Er ist fast komplett ausgebucht, aber von Chaos bei der Sitzplatzsuche keine Spur. „Wie praktisch! Ich muss ja gar nicht um.. Blog weiterlesen