EU-Wahlen verursachen politisches Erdbeben in Spanien und in Katalonien

04.06.2014 - Hans Bösch 

Die EU-Wahlen vom Sonntag dürften in Zukunft sowohl die spanische als auch die katalanische Parteienlandschaft nachhaltig verändern.

 

Spanien: Ein Ende des Zweiparteiensystems zeichnet sich ab
Man hat es eigentlich kommen sehen, aber das Debakel des spanischen Zweiparteiensystems fiel noch weit größer aus als vorhersehbar. Erstmals in der Nach-Franco-Ära sind die beiden Großparteien PP (Volkspartei) und PSOE (Sozialisten) zusammen auf nicht einmal 50 % der Stimmen gekommen. Während sie bei den letzten Parlamentswahlen noch 73,4% der Stimmen auf sich vereinten, schafften sie bei den EU-Wahlen 2014 nur mehr 49,7%. Das erweckt die Hof-fnung, dass auch die PolitikerInnen Spaniens in absehbarer Zeit das Fremdwort „Kompromiss“ lernen müssen, wenn sie in absehbarer Zukunft vielleicht gezwungen sein werden, sich nach Koalitionspartnern für eine Regierungsbildung umzuschauen. Zumindest auf sozialistischer Seite blieb das Erdbeben vom Sonntag nicht ohne Folgen: Parteichef und Politdinosaurier Alfredo Pérez Rubalcaba hat heute nach einer langen Serie von Wahldebakeln das Handtuch geworfen und ist zurückgetreten.

Katalonien: Referendums-Befürworter gestärkt
Noch katastrophaler haben die beiden Großparteien in Katalonien abgeschnitten, wo Konserva-tive und Sozialisten nur noch auf 24% der Stimmen kamen. Die PSC (Sozialistische Partei Katalo-niens) verlor gegenüber den letzten EU-Wahlen ziemlich genau die Hälfte ihrer Stimmen und rutschte vom zweiten auf den vierten Platz ab. Nicht viel besser schnitt die PPC (Katalanische Volkspartei) ab, die prozentuell etwas weniger Stimmen verlor, aber trotzdem vom dritten auf den fünften Platz zurückfiel. Beide Parteien hatten die Bevölkerung in dramatischen Apellen da-zu aufgerufen, bei den EU-Wahlen den Parteien, die ein Los-von-Spanien propagieren, eine Abfuhr zu erteilen.
Dieser Schuss ging allerdings nach hinten los: Die Überraschung des Wahlsonntags schlechthin lieferte nämlich die linksrepublikanische Partei ERC, also die treibende politische Kraft hinter dem Prozess zur Loslösung Kataloniens von Spanien. Erstmals seit 1936 wurde die ERC mit 24% der Stimmen zur stärksten Partei Kataloniens. Sie schaffte es damit, ihren Stimmenanteil zu verdreifachen. Auf Platz zwei, nur knapp hinter den Wahlgewinnern, landete die Regierungspartei CiU, eine katalanistische Partei bürgerlich-liberalen Zuschnitts. Gerade weil diese Partei vor der Bevölkerung für die drastischen Sparpakete der letzten Jahre geradestehen musste, wurde es von vielen Beobachtern als kleine Sensation gewertet, dass sie von den WählerIn-nen nicht dafür abgestraft wurde. Im Gegenteil, ist man versucht zu sagen: Sie erreichte sogar 100.000 Stimmen mehr als noch vor 5 Jahren, was allerdings aufgrund der 10% höheren Wahl-beteiligung (!) unter dem Strich eine geringe prozentuelle Einbuße bedeutete.

 

Zu den klaren Wahlgewinnern zählt auch die öko-sozialistische Partei ICV (Iniciativa per Catalunya-Verds), die ihren Anteil auf über 10% fast verdoppeln konnte. Der grün-bewegten Linkspartei kam sicherlich zu Gute, dass ihre europäische Spitzenkandidatin, Ska Keller, sich in der Endphase des Wahlkampfs als einzige EU-Spitzenpolitikerin vorbehaltlos hinter die für 9. November anberaumte Volksbefragung über einen Weiterverbleib Kataloniens bei Spanien stellte. Ihre klaren Aussagen bildeten ein wohltuendes Kontrastprogramm zum sozialistischen Anwärter auf den EU-Vorsitz, Martin Schulz, einem ausgewiesenen Katalonien-Kenner, der sogar private Kontakte zum katalanischen Erfolgsschriftsteller Jaume Cabré, einem erklärten Separatisten, pflegt. Mit Befremden wurde hier anlässlich der TV-Diskussion der Spitzenkandidaten zur Kenntnis genommen, dass sich Schulz auf die überraschende Frage nach seiner Position in der Katalonienfrage vorbehaltlos auf die Seite seiner spanischen Parteifreunde stellte, die die KatalanInnen unter keinen Umständen wählen lassen wollen.
Mit diesem Wahlergebnis ist mittlerweile auch die wichtigste Frage, die vor den Wahlen gestellt wurde, klar beantwortet, und zwar die nach dem Abschneiden der Befürworter des Unabhängigkeits-Referendums, das auf den 9. November angesetzt ist. Die Gegner dieser Volksbefragung kamen zusammen auf 32%, die Unterstützer auf 61% der Stimmen.


Folglich drängt sich einem die Frage auf, ob es nicht langsam an der Zeit wäre, dass sich in Madrid die Einheitsfront aus regierender Volkspartei und oppositionellen Sozialisten, die Schulter an Schulter mit allen Mitteln das Referendum zu blockieren wollen, im Konflikt mit Katalonien endlich nach Ansprechpartnern außerhalb ihrer Parteifilialen in Barcelona umsehen, da diese mittlerweile weniger als ein Viertel der Bevölkerung Kataloniens repräsentieren.
Unter dem Strich sind also die abgelaufenen Wahlen ein klares Signal aus Katalonien in Richtung Europa: „Wir wollen wählen!“.


Zum Autor: Hans Bösch, geboren in Lustenau, im äußersten Westen Österreichs. Lebt seit 17 Jahren in Manresa, in Zentralkatalonien. Unterrichtet dort Deutsch und betreibt ein Kreativatelier für Kinder. Glaubt inzwischen nicht mehr daran, dass der spanische Staat Katalonien jemals als gleichwertigen Partner akzeptieren und respektieren wird.

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