Frechheit siegt

17.10.2016 - Karin Sommer 

Ich bin nicht so gut im „Böse sein.“ Ganz im Gegenteil. Ich bin darauf trainiert, gut zu sein. Seit einiger Zeit schwant mir allerdings, dass ich da etwas Wesentliches versäumen könnte.

 

Ich war eindeutig nicht immer so gut. Mit 10 befestigte ich einen Geldbeutel an einem dünnen Faden und legte  ihn deutlich sichtbar auf den Gehweg. Meine Freunde und ich versteckten uns hinter der Hauswand und warteten. Wann immer eine Person stehenblieb und nach dem Geldbeutel griff, zogen wir an dem Faden und freuten uns unglaublich über das verblüffte Gesicht der Person. Am lustigsten war es, wenn jemand nach dem ersten Danebengreifen nicht begriff, was da los war, und immer wieder nach dem unerreichbaren Beutel fasste. Wir schüttelten uns die Bäuche vor Lachen und konnten einfach nicht genug davon bekommen, die Leute an der Nase herumzuführen.

 

Ich vermisse dieses unverschämte, kullernde Lachen. Mein eigenes und das meiner Freunde, die sich alle, so wie ich, zu vernünftigen Menschen verwachsen haben.

 

In letzter Zeit wurde der Wunsch nach dem Kichern größer und die Bereitschaft, angepasst und gut zu sein, weniger. Trotzdem war mir der nächste Schritt in Richtung „mehr Frechheit und Spaß“ mehr als unklar. Schließlich geht man nicht mit fast fünfzig auf die Strasse und versucht, sich mal wieder ungezogen zu benehmen.

 

Ganz unverhofft bekam ich dann die Möglichkeit. Nicht in meiner Freizeit, nicht mit einer meiner KlientInnen, sondern in einer Deutschklasse an der Sprachschule, an der ich unterrichtete.

 

Wir spielten ein Spiel. Es war die letzte Stunde eines vierwöchigen Intensivkurses, Anfängerniveau.

 

In dem Spiel ging es darum, Sätze zu bilden, um die Adjektivdeklinationen zu üben. Es war ein Brettspiel, bei dem nicht das Können, sondern das Würfelglück den Sieger bestimmte. Der Sieger hieß Alex.

 

Ich habe das vielleicht vorher nicht erwähnt, aber ich hasse es, zu verlieren. Es weckt eine unglaubliche Wut und eine beinahe unbeherrschbare Rachelust in mir, die ich normalerweise auch kaum verstecken kann, die aber so gar nicht zu meinem Bild einer ausgeglichen, ruhigen Person passen.

 

In diesem Moment allerdings machte etwas „Klick“ in mir und ich hörte mich charmant lächelnd sagen:

„Jetzt werden wir das Spiel noch einmal spielen. Allerdings mit veränderten Regeln. Diesmal möchte nämlich ich gewinnen. Das werde ich dadurch erreichen, dass die neue Regel lautet, dass jeder, der einen Fehler macht, ein Feld zurückgehen muss. Denn ich bin die Lehrerin und Deutsch ist meine Muttersprache, also weiss ich, dass ich keinen Fehler machen, und somit gewinnen werde.“

 

Meine Schüler starrten mich an und wussten einen Moment lange nicht, ob ich scherzte, begriffen aber gleich danach, dass ich todernst war, obwohl, oder gerade weil ich dieses strahlende Lächeln auf den Lippen hatte.

 

Wir begannen die zweite Runde. Das Konzentrationsniveau stieg dramatisch und die Spannung schien fast unerträglich. Niemand wollte einen Fehler machen. Alex fragte mich nach dem Wort „grausam“. Er bildete den Satz: „Ich kenne eine grausame Frau“, grammatikalisch perfekt, und schaute mich durchdringend an.

 

Es war eine fehlerlose Runde, die bestätigte, dass sich die Wochen des Lernens ausgezahlt hatten, und ich war so unglaublich stolz auf meine Schüler, gewann allerdings trotzdem, was purer Zufall war.

 

Ich lächle immer noch selig, wenn ich an diese Unterrichtsstunde zurückdenke. Ich lächle noch breiter, wenn ich daran denke, wieviele Situationen noch vor mir liegen, in denen ich aus meiner Rolle schlüpfen und durch mein scheinbar unpassendes Verhalten andere Menschen in ein neues Abenteuer mitreißen werde.

 

Aber jetzt bist du dran– was wirst du heute tun, um das unverschämte Lächeln auf dein Gesicht zu zaubern?

 

Ich freue mich auf deinen Kommentar.

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