Jammern auf hohem Niveau

31.05.2010 - Clementine Kügler - Übersetzerin 

Dass die Renten eingefroren und die Beamtengehälter leicht gesenkt werden, hat viele Proteste ausgelöst, aber wenn man dann genau nachfragt, weiß keiner richtig, wie viel er einbüßt. Wenn es wirklich nur fünf Prozent ab einer bestimmten Summe sind, dann wäre das doch gar nicht so schlimm. Eine andere Frage ist, ob es hilft, die Krise zu überwinden und langfristig wirtschaftliche Stabilität zu schaffen. Und eine weitere Frage ist, ob die Menschen, welche unter der Krise am meisten leiden, sie aber am wenigsten verschuldet haben, dafür die Rechnung bezahlen müssen.

Wenn die Mehrwertsteuer steigt, die Strompreise wohl auch wieder und Rentner und Beamten und wir anderen sowieso schon immer weniger verdienen, dann könnte sich ein jämmerliches Bild abzeichnen. Aber das wird schon seit Monaten heraufgeschworen. Und die Kneipen sind voll, die Restaurants auch. Da wird flaniert und gefeiert und für Wochenendausflüge ist Geld da und ein schnelles Auto und für hübsche und völlig unnötige Dekorationsartikel auch und im Sommer reisen, klar…

Die Krise, über die alle stöhnen, macht sich im Alltag erstaunlich wenig bemerkbar. Der Friseur ist überlaufen, wenn die Leute dafür Geld ausgeben, kann es doch nicht so schlimm sein, sagte neulich eine Freundin. Na du schneidest ja offensichtlich auch nicht selbst. Nee, das muss sein. Und so geht es da oder dort allen. Und irgendwie ist das auch möglich.

Geschimpft wird über die Einsparung des 2 500 Euro-Babyschecks? Der hat doch nie überzeugt. Den hätte man nicht einführen müssen, sondern unbedingt eine langfristige Hilfe, ein Kindergeld wie in anderen europäischen Ländern, mehr kostenlose Krippen- und Vorschulplätze schaffen müssen. In der Hinsicht, wie in vieler anderer, hat die Sozialpolitik der spanischen Linksregierung bisher enttäuscht. Die Firmen müßten mehr Teilzeitverträge akzeptieren, wir brauchen subventionierte Hausmütter, die sich um kleine Kindergruppen gut kümmern. Dass das in den vielen Jahren des Wirtschaftsbooms und gesunden Haushalts nicht verbessert wurde, ist ärgerlich.

Gehört nicht zu den Sparmaßnahmen, ist aber auch ein wesentlicher Punkt: Die Begrenzung der Mietverträge auf höchstens fünf Jahre in Spanien, schafft soziale Unsicherheit. Besonders zu spüren, seit mehr Leute auf das Mieten angewiesen sind, weil die Banken keine Kredite mehr geben, um ein Eigenheim anzukaufen. Dass die Hausbesitzer vielleicht nicht an ihre Miete kommen und sich absichern wollen, dafür gibt es doch andere Wege, z.B. funktionierende Gerichte. Auch die brauchen ja viel zu viel Zeit…

Streiks oder Generalstreiks wie in Griechenland finde ich den falschen Weg. Natürlich sind die Leute wütend, aber wenn man durch die Proteste alles lähmt, kollabiert das Land vielleicht wirklich. Ich wünsche mir vielmehr, man würde die Herausforderung annehmen. Den Stier bei den Hörnern packen. Wir leben in einer extrem individualistischen Vergnügungsgesellschaft, wo jeder nur auf seinen Vorteil bedacht scheint und das aber von allen finanziert werden muss. Etwas beisteuern will keiner oder schiebt die heiße Kartoffel weiter.

Natürlich hat Zapatero Angst, dem Kapital und den Banken an den Kragen zu gehen und die Besserverdienenden höher zu besteuern. Salgado und Blanco sagen nein, der Regierungschef dann mal ja, aber wann und wie hängt wohl von den Reaktionen der möglicherweise Betroffenen ab? Wird offen mit Kapitalflucht gedroht? Dass eine sogenannte Linksregierung so lange zögert, liegt vielleicht daran, dass sie gar nicht so links ist und viel zu lange mit populistischen Improvisationen gearbeitet hat.


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