Lebhafte Debatte

31.05.2008 - Stefanie Claudia Müller - scm-communication 

Es gibt so vier bis fünf Sachen in Spanien, die würde ich unglaublich vermissen, wenn ich mal wieder woanders leben würde. Dazu gehört auf jeden Fall das Radio. Es bringt mich jeden Tag zum Schmunzeln, Lachen und manchmal auch zum Weinen, wenn ein Hörer wieder von seinem persönlichen Schicksal berichtet und man denkt: "Oh Gott, wie gut geht es mir eigentlich." Ich kann gar nicht mehr ordentlich Auto fahren, ohne Radio Nacional, Onda Cero oder Cadena Ser einzuschalten. Auch Intereconomía ist morgens sehr gut. „Capital“ mit Luis Vicente Muñoz ist einer der besten Wirtschaftsendungen, die ich kenne.
 
Das aller Beste ist jedoch, ein spanisches Fußballspiel im Radio anzuhören. Ich bin selber kein großer Fußball-Fan, aber als ich zum Beispiel zufällig das letzte Mal die Moderation des Spiels Barça gegen Real Madrid auf dem Weg von Madrid nach Hause mitbekam,  habe ich mich köstlich amüsiert, obwohl mir das Ergebnis eigentlich egal war. Allein für dieses langgezogene und ohne Rücksicht auf die Ohren geschrieene „GOOOOOOAAAAAAAAAAAAALLLLLLLLLLLLLLLLLLLL“, lohnt es sich, beim Fußball das Radio einzuschalten. Meistens kommentieren mehrere Journalisten, darunter auch oft Frauen,  teilweise mit unterschiedlichen Club-Affinitäten. Die Debatte lebt. Nur bei UEFA oder Champions League-Spielen sind sich alle einig - zum Beispiel beim Heimspiel FC Bayern München gegen Getafe, als der Madrider Verein nach dramatischen Szenen schließlich verlor, standen alle Kommentatoren auf allen Radiosendern hinter dem kleinen Verein. „Ganz Spanien trauert“, hörte man bei  Radio Marca, wo es rund um die Uhr Sportnachrichten gibt. 

Während in Deutschland Radiosender entweder so ernsthaft auftreten, dass man deprimiert wird oder reine Musikabspielanstalten sind, lebt das spanische Radio durch Gefühle, Debatten, viele Nachrichten aus aller Welt und Diskussionen. Statt einem Starmoderatoren, tritt eigentlich immer ein Team vors Mikro, die sogenannten "Tertulias" gibt es auf allen Sendern, in Deutsch „runde Tische“. Hier wird gestritten, versöhnt und leider auch vielerorts wie bei Radio Cope und auch bei vielen Sendungen auf Intereconomía massiv beeinflusst. Und es wird auch gebetet (Radio María) und geflucht, leider viel zu sehr auf dem katholischen Sender Cope. Je später der Abend desto kurioser werden die Sendungen. Da treten Wunderheiler oder Astrologen plötzlich vors Mikro und beraten die Hörer, bei dem Musiksender Europa FM gibt es ziemlich derbe Sexualberatung und sonst kann man fast überall Kultur pur genießen. 

Morgens kommen eigentlich die meiner Meinung nach besten Sendungen zum Beispiel "Hoy por Hoy" mit Carles Francino auf Cadena Ser. Tränen vor Lachen laufen mir oft bei den Guiñoles von "Hoy por Hoy" herunter, der politischen Satire, die aktuelle Ereignisse mit viel Humor auf den Punkt bringt. Ebenfalls zu empfehlen ist die Sendung „Días como hoy“ mit Juan Ramón Lucas, für mich einer der besten Radiojournalisten in Spanien. Erfrischend ist seine unpolitische Art, die sehr menschliche Herangehensweise an Themen und sein bescheidenes Auftreten. Der komplette Gegensatz zu Profilneurotikern wie Frederico Jiménez Losantos auf Radio Cope.
 
Ebenfalls empfehlenswert ist die "No es un día cualquiera" mit Pepa Fernández auf Radio Nacional 1, wo am Samstagmorgen ganz alltägliche Themen besprochen werden, auch immer wieder mit Gästen. Aber meine absolute Lieblingsradiojournalistin ist die Baskin Gemma Nierga, die nachmittags ab 16 Uhr auf Cadena Ser “La ventana” moderiert. Mit großem Einfühlungsvermögen geht sie auf ihre Gesprächspartner ein, hetzt nicht auf, beeinflusst nicht, hört zu und verbindet. 

Während das spanische Fernsehen oft schrecklich banal und billig ist, tertulias dort oft mehr durch ihre leichbekleideten Frauen als durch ihren Inhalt auffallen und die Werbung jeden guten Spielfilm kaputt macht, ist das spanische Radio wirklich einmalig gut. Leider gibt es auch hier wie zum Beispiel bei  Intereconomía zuviel Werbung, die sich regelrecht einschleicht. Aber dennoch kann man bei der grundsätzlich hohen Qualität der Sendungen verstehen, dass so viele alte Menschen das Radio als ihren Begleiter durch den Tag sehen, mit dem Knopf im Ohr spazieren gehen oder es als Einschlafhilfe nutzen.

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