Mañana mañana

10.08.2009 - Dorothee Schmidt - Deutsche Infodienste S.L. 

Einer der wohl beliebtesten kulturellen Unterschiede lässt sich hier in Spanien ganz einfach mit mañana mañana benennen. Was dem deutschen Sprichwort “Morgen morgen nur nicht heute, sagen alle faulen Leute” nahe kommt, ist unter den Spaniern viel mehr als eine Art Lebenseinstellung aufzufassen. Die leicht negative Deutung des deutschen Sprichworts verrät bereits unser geringes Verständnis für Verzögerungen, man sagt uns Deutschen ja nicht umsonst die Pünktlichkeit in Person nach. Das spanische mañana mañana ist währenddessen mehr als “Mach mal kein Stress, das können wir auch später noch erledigen” zu deuten.

Da mir jedoch als Deutsche die Toleranz für Zeitverzögerung fehlt, konnte ich das Mañana mañana-Phänomen des Öfteren und in verschiedenen Variationen beobachten. Wie beispielsweise in der Zara-Kassenschlange. Während sich zwei bis drei Zara-Verkäuferinnen über ihr letztes Date, den Diskoaufenthalt oder die frühmorgendlichen Haarstylingprobleme unterhalten, warte ich.

Prinzipiell würde ich mich selbst als kommunikative Person bezeichnen, von daher stellt es für mich kein Problem dar, während der Arbeitszeit über Privates zu sprechen. Jedoch kann ich weniger Verständnis für diese Art angeregter Gespräche zeigen, wenn sich meine Wartezeit dadurch vermutlich verdreifacht, wenn nicht sogar vervierfacht. Ich deute dieses Verhalten immer wieder als Ansatz von Arbeitsverweigerung.

Davon abgesehen, bin ich höchstwahrscheinlich auch zu “Deutsch”, um mich beispielsweise in der Schlange zu amüsieren, so wie es ein Großteil der Spanier tut: Ein kleiner Kommentar über die langsame Verkäuferin und im Handumdrehen ist man mit einer fremden, jedoch gleichgesinnten Person in ein angeregtes Gespräch verwickelt. Und ich? Ich stattdessen resigniere und stelle mir vor, wie ich als Zara-Chefin das ganze Personal hier entlassen würde.

Hier wird doch sofort klar, dass ich als angespannte Deutsche nicht schaffe, aus einer solchen Situation, so wie es die Spanier machen, das beste herauszuholen. Die Lebenseinstellung mañana mañana beinhaltet nämlich ebenfalls einen großen Faktor an Gelassenheit. Letztendlich hat dann wohl das spanische Gemüt gewonnen, denn während sich meine Laune noch nicht einmal mehr mit den neu erworbenen Einkauf aufheitern lässt, setzt sich der Spanier ins nächste Café und widmet seine ganze Aufmerksamkeit dem Kellner, der bloß nicht die patatas fritas zu dem bestellten cañas vergessen soll.

In meinem spanischen Freundeskreis bezieht sich das mañana mañana vor allem auf zukünftige bzw. für mich auf sehr naheliegende Vorhaben. Wenn man sich zum Beispiel ein nettes Zusammensitzen mit Spaniern in einer Wohnung vorstellt und der Entschluss “Vámonos!” (lasst uns gehen) gefasst wird. In einer Zusammenkunft mit meinen deutschen Freunden würde dieser Ausruf eine ziemlich schnell folgende, wenn nicht sogar sofortige Aufbruchsstimmung auslösen. Theorie (der Ausruf) und Praxis (die Umsetzung) liegen hier also (zu- mindestens für mich) sehr nah beisammen. Währenddessen ist in meinem spanischen Umfeld “Vámonos!” eher eine Art Vorwarnung für später folgende Handlungen.

Zu Anfang meines Spanienaufenthalts wunderte es mich noch, dass nach dem ersten “Vámonos” und auch weiteren Vámonos-Ausrufen mehr als eine Stunde vergehen kann. Heute versuche ich nicht gleich beim ersten „Vámonos“ vom Sofa aufzuspringen. Nach drei Monaten Spanienaufenthalt habe ich dann erste Erfolge bemerkt. Ein „Vámonos“ kann ich mittlerweile gekonnt ignorieren. Mein Trick: ich warte einfach bis sich die Spanier dem praktischen Teil des Vámonos zuwenden. Obwohl ich gestehen muss, dass mich auch heute nach fast zwei Jahren ein „Vámonos!“ noch immer in eine Art Aufbruchsstimmung versetzt.

Somit ist für mich die Grundlage des spanischen mañana mañanas soweit entschlüsselt: Theorie und Praxis liegen in Spanien einfach zeitlich weiter auseinander als im Deutschen. Und meine nervöse Haltung gegenüber Verzögerungen ist entschuldigt durch das Sprichwort “Morgen morgen nur nicht heute, sagen alle faulen Leute” und die dahinter versteckte deutsche Mentalität.

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