Total TV

07.05.2012 -  

Hauptsache, es flimmert. Und es flimmert reichlich in Spaniens Fernsehlandschaft, einem Labyrinth aus weit über tausend Kanälen. Damit steht das Land neben Großbritannien und Italien an Europas Spitze. National, regional, lokal, Special Interest und Very Special Interest, die Auswahl ist undurchschaubar und reicht bis zum Stierkampf als Bezahlsender, den – traurig, aber wahr und ohne weiteren Kommentar – ein Teil meiner angeheirateten Verwandtschaft abonniert hat. Wer dort zu Besuch kommt, darf nicht erwarten, dass ihm zu Ehren das Fernsehen ausgeschaltet wird. Im Gegenteil: Droht das Nebengeräusch der Gästeunterhaltung allzu stark anzusteigen, stellt man das Gerät im Bedarfsfall lauter ...

In den Programmbrei Spaniens wird das übliche Einerlei aus Kochshows eingerührt, Telenovelas, Dokusoaps, Herzschmerz und Urlaubsfreuden von Prominenten. All das, was in die Breite und nicht in die Tiefe geht, kommt bestens an. Erschreckt hat mich zuletzt jedoch die Pressemeldung zu einer Spielshow. Eine Telefonkandidatin hatte unter Zeugenschaft des Publikums fünftausend Euro gewonnen, einzig der Eingang des Geldes auf ihrem Konto blieb aus. Nach einer Reihe erfolgloser Nachfragen blieb der Frau aus Tarifa kein anderes Mittel als der Rechtsweg, der in Spaniens marodem Justizsystem niemand zu wünschen ist. Dass die landesweit betrüblich darniederliegende Zahlungsmoral Fernsehsender einschließt, war mir bis dahin unbekannt.

Was in Spanien fehlt, sind seriöse Politmagazine, aber das kümmert eh niemanden, am wenigsten die Politiker. Kein Mangel herrscht hingegen an Sportsendern, die bei Fußballspielübertragungen von Liga bis Champions League Massen an Menschen in Kneipen zusammenbringen. Zur Selbstherrlichkeit und der Fanbindung der Clubgiganten Real Madrid und FC Barcelona zählen ihre eigenen Kanäle. Wie sich Realmadrid TV und Barça TV abseits der eigentlichen Matches bis nachts oder rund um die Uhr mit Inhalt füllen lassen, grenzt für mich an ein Wunder. Interviews, Vorspiel- und Nachspiel- und Trainingsberichte sind nicht alles, auch deren Wiederholungen bis zum Abwinken nicht. Programmfacetten geben Pressekonferenzen, Partien der Jugendmannschaften mit den Stars von morgen und – als unschlagbares Füllmaterial – Konserven mit den »besten Momenten der Geschichte« und Spielen, die sich vor zwanzig oder dreißig Jahren ereigneten. Schechtestenfalls wiedergegeben in voller Länge. Was ich noch nicht ausgemacht habe, sind Porträts der Zwergkaninchen des Mannschaftsarztes und Liveübertragungen von der neuen Einsaat des Stadionrasens.

Auf Reisen durch Spanien schalte ich abends bevorzugt Programme mit Liveanrufen bei Tarot-Damen ein, die mich im Hotelbett am zuverlässigsten in den Schlaf bringen. Ergreift eine der »großen Wahrsagerinnen« das Wort, erfüllt der Klang ihrer sanften Stimme den Raum, legt sich wie Balsam auf die Seele und steigert mein Verlangen wegzuschlummern. Manchmal schaffe ich es mit Mühe, mich eine Zeitlang wachzuhalten, um an der »kostenlosen Erstberatung« der Anrufer teilzuhaben. Was wird wohl aus ihrer Partnerschaft? Oder dem Arbeitsplatz? Oder der Krankheit? Oder der Liebe der Tochter? Dann legt die Meisterin mit konzentrierter Miene die Karten aus, analysiert, hebt gelegentlich ihre Arme und beschwört die Kräfte höherer Mächte.
Mitunter wird sie ungnädig, falls es jemand am anderen Leitungsende wagt, sie zu unterbrechen: »Erlaubt ist nur eine Frage!« Schließlich scheinen die Nächsten in der Warteschleife zu hängen, um öffentlich ihre Sternzeichen und Probleme preiszugeben.

Aber rufen wirklich soviele Spanier jedweden Alters und Geschlechts bis tief in die Nacht hinein an, um das Dunkel der Zukunft erhellt zu bekommen? Oder lässt die Technik von heute Sprachprogramme mit verstellbaren Stimmen zu, allesamt lanciert aus der Redaktion? Ach nein, irgendwie muss das Personal vor und hinter den Kulissen ja entlohnt werden. Auf dem Bildschirm will es mir allerdings nie gelingen, den in Miniaturschrift eingeblendeten Kostensatz pro Telefonat zu entziffern.
Irgendwann werde ich wach, und noch immer ist eine »große Wahrsagerin« wie ein Phantom in der Nähe meiner Matratze zugegen ...

Wachen Geistes warne ich ausdrücklich vor Programmen mit einer Tertulia, was als genuin spanischer Ausdruck für »Plauderkreis«, »Schwatzrunde« steht. »Versammlung von Personen, die sich regelmäßig treffen, um Konversation zu halten«, habe ich im Wörterbuch der Königlichen Sprachakademie als Definition gefunden. Das klingt neutral und allzu ungelenk. Mein Spanisch-Deutsch-Wörterbuch weist eine Tertulia schlichtweg als »Stammtisch« aus, was tendenziell nach niveaufreier, biergetränkter Niederung klingt. Niveaufrei stimmt.

Vor Fernsehkameras (und auch Radiomikrofonen) kommen Leute zusammen, die ins Blaue hinein über Gott und die Welt philosophieren und als oberste Voraussetzung erfüllen, von nichts etwas wissen zu müssen, aber über alles reden zu können. Tertulias in Mittagsmagazinen wie auf dem Sender Intereconomía, das ist für mich im einstigen Inquisitionsland Spanien eine audiovisuelle Folter, die zweitgrößte vorstellbare Barbarei – einzig übertroffen vom Stierkampf ...

Andreas Drouve
Im April erschien das Buch ´Selbstversuch Spanien´ von Andreas Drouve.
Mehr Infos unter:
http://www.conbook-verlag.de/selbstversuch_spanien.html und
www.selbstversuch-spanien.de

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