Wartezeiten

19.06.2012 -  

Mein Kumpel Adam, der mit mir die Freuden und Härten eines Auswandererschicksals nach Spanien teilt, denkt mit gewissem Grausen an die bevorstehende Weihnachts- als Reisezeit. Zu eingebrannt ist seine Erinnerung an eine spanische Fluglinie, deren Namen ich aus Rechtsgründen dezent übergehe, auf Anfrage aber gerne an jene weitergebe, die Ähnliches erleben möchten.
Als Adam noch davon ausging, das Ende des angebrochenen Weihnachtsferientages im Kreise seiner Familie in Bayern zu verbringen, und in Pamplona so früh eincheckte, dass man ihn sogar auf die Verbindung vorher umbuchte, bestieg er frohen Mutes die Maschine zum Umsteigeflughafen Madrid. Allerdings hatte man Adam bei der Abfertigung eröffnet, der am Abend abgehende Anschlussflug nach München sei überbucht, weswegen er ihn in Madrid rückbestätigen lassen müsse – kein Problem, eine Formalie, er habe ja jetzt ein Plus an Zeit.

Nach der Ankunft brauchte er den Serviceschalter der Airline nicht lange zu suchen, da er leicht an den Warteschlangen erkennbar war, die sich durch die Halle wanden: auf beide geöffnete Seiten eines isoliert stehenden Häuschens in der Mitte des Terminals zu. Ebendort hatte ich bei anderen Gelegenheiten ausgeharrt, sah mich in Diskussionen mit den Dienst habenden, unmotivierten, übellaunigen Schabracken verstrickt und erntete auf die Fragen nach dem »Warum?« und »Wann genau geht es weiter?« zu verspäteten oder gänzlich gestrichenen Flügen Schulterzucken.

Nach anderthalb Stunden Anstehens fehlten Adam etwa fünf Meter bis zum Ziel, als er verfolgte, wie sich auf der Gegenseite der aufgestaute Unmut einiger Gäste lautstark entlud. Da der Schalter nach bewährter Manier mit Damen besetzt war, die den Dienst am Kunden auf eigene Weise interpretierten, ließen sie von innen krachend die Rollläden herunter. Ob sie angesichts der tumultartigen Szenen, die nun entbrannten, einen Sturm auf die Festung erwarteten und Eimer mit Unrat und glühendem Pech zur Feindesabwehr vorbereiteten, entzog sich Adams Blickfeld, doch die Konsequenzen bekam er gleich zu spüren, da sich der Menschenauflauf ungezügelt auf seine Seite zu drängeln begann, wo die Kolleginnen zum Glück die Jalousien offen hielten.

Irgendwann war Adam an der Reihe, bekam seine Bestätigung und atmete auf – aber nur solange, bis er der Tafel für den Weiterflug den Hinweis »Verspätet« entnahm. Ein solches, bei der betreffenden Fluglinie angekündigtes »Verspätet« lässt sich meiner Erfahrung nach nicht an internationalen Maßstäben messen, sondern die Alarmglocken schrillen. An Streiktagen ist es ohnehin hoffnungslos, aber es war kein Streiktag.

»Wir fliegen heute sicher nicht mehr«, sagte eine Mitwartende aus Berlin, die von einer dunklen Ahnung befallen oder vorgeschädigt zu sein schien.
»Ach was«, winkte Adam ab, ein stets optimistischer Mensch.

Mit zweieinhalb Stunden Verspätung, ihrerseits verbunden mit fünfmaligem Wechsel des Boarding Gate, saßen die Passagiere um 22.30 Uhr an Bord, bereit zum Abflug nach München. Nach dreißigminütigem Warten erreichten die Humanausdünstungen ihre Grenze der Zumutbarkeit, erst dann erbarmte sich das Kabinenpersonal nach Protesten, die Lüftung einzuschalten. Eine Viertelstunde danach erklang die Stimme des Käpitäns, der den Wiederausstieg verkündete. Man könne heute nicht mehr fliegen, es sei zu spät, Nachtlandeverbot, jetzt müsse er vom Bodenpersonal lediglich jemanden erreichen, der die Gangway wieder heranfahre. Keine leichte Aufgabe, wie die neuerliche Wartezeit bewies.

Zurück an Land, gab ein freilaufender Bediensteter der Airline bekannt: »Abflug ist morgen um elf Uhr, Sie verlassen den Flughafen, Busse bringen Sie in ein Hotel.«
»Wir haben Hunger«, hallte es ihm entgegen.

Kurz darauf fielen die Hin- und Hergeschobenen auf Kosten der Airline über eine Kantine her, als Adam – Bierdose und ein Plastikschüsselchen Salat in Händen – den Bediensteten in einer Menschentraube plötzlich entschwinden sah. Leidlich hechelte er hinterher und schlussfolgerte, dass es sich um die Abfahrt des Busses handelte, kam aber nicht mehr rechtzeitig. Der Bus war voll und mit röhrendem Motor startbereit.
»Es kommen zwei weitere«, hieß es.

Statt der Busse erschien alsbald erneut ein Chaoskoordinator, der die in den Bus Eingestiegenen zum Ausstieg und alle miteinander aufforderte, zurück ins Terminal zu kommen, es habe sich unvorhergesehenerweise etwas geändert. Adam leerte sein Bier, brachte den Salat durch die Sicherheitsschleuse und sah sich nach Mitternacht im Kreise der gestrandeten Mitflieger vor vollendete Tatsachen gestellt: neue Abflugzeit um fünf Uhr in der Früh, ein Hotel lohne angesichts der wenigen verbleibenden Stunden nicht mehr.

»Das ist alles ein Riesenchaos, eine Riesensauerei!«, rief jemand mit bayrischem Akzent in die Halle.
»Nein, das ist Spanien!«, kam ein Zwischenruf auf Deutsch mit stark spanischem Einschlag zurück.
Für eine Massenrevolte waren alle zu erschöpft.
Am Morgen nahm Adam ein Foto von der Anzeigetafel auf: »Boarding Time 03.31 Uhr«. Dann ging der Flug pünktlich ab ...

In Spanien gilt es, sich in Geduld zu üben. Da kann man froh sein, nur eine lausige Nacht auf einem Flughafenterminal verbracht zu haben. Anderes zieht sich länger dahin, bis die letzte Milde verglüht ist und selbst Galgenhumor nicht mehr tröstet, so wie bei Catalina S., Pharmazeutin, die sich in ihrer Stadt den Lebenstraum einer eigenen Apotheke erfüllen wollte. Nach Zeiten der Suche fand sie ein geeignetes Ladenlokal, wohl wissend, dass es laut Gesetz einen Mindestabstand von 150 Metern zur nächstliegenden Farmacia einzuhalten galt. Über die Frage, wie 150 Meter zu messen waren, entbrannte eine Provinzposse, die Deutschland zur Ehre gereichte. Während die Gesundheitsbehörde und Catalinas Konkurrenz beharrlich die Ansicht vertraten, die Distanz sei in Luftlinie zu messen und daher zu gering, kamen ein Polizeigutachten und der zuständige Landesgerichtshof zu dem Schluss, die Meterzahl aus der Sicht eines Fußgängers anzusetzen: nicht als Abkürzung quer über einen Platz und eine befahrene Straße, sondern ein Stück weiter über den nächsten Zebrastreifen. So war die Vorgabe zum Mindestabstand erfüllt.

Dreieinhalb Streitjahre nach ihrem Erstantrag war es letztlich der Schlenker über den Zebrastreifen, der Catalinas Arbeitsleben rettete. Sie durfte ihre Apotheke eröffnen ...
Rekordbrecher meiner Sammlung »Wartezeiten« ist Eulogio C. Der Arme hatte sein Auto im Städtchen Tudela auf einem Parkstreifen abgestellt, der mit orangefarbenen Strichen gekennzeichnet war, die er nicht kannte. Als er wiederkam, klebte auf der Straße ein Zettel mit dem Verweis, dass sein Fahrzeug weg war – abgeschleppt.
Im städtischen Abstellhof bekam er zu seiner Überraschung zu hören, die Zone sei gebührenpflichtig gewesen. Eulogio blieb keine andere Wahl, als sein abgeschlepptes Auto freizukaufen, doch verlangte er nach einem Termin mit dem Chef der Lokalpolizei, um die Sache vor einem offiziellen Beschwerdeweg aus der Welt zu schaffen und sein Geld unbürokratisch zurückzubekommen. Denn, so entnahm Eulogio dem Straßenverkehrskodex, einzig Blau sei als Kennzeichnung von gebührenpflichtigen Zonen erlaubt.

Des Triumphes gewiss, brachte Eulogio zum Termin vorsorglich Fotokopien des Regelwerks mit, die der Polizeichef nicht einmal anrührte, sondern sich selbstgefällig zurücklehnte und behauptete, der Vorgang sei gesetzeskonform verlaufen.
Daraufhin legte Eulogio im Rathaus von Tudela schriftlich Beschwerde ein, die ohne Angabe von Gründen abgelehnt wurde, bevor er vor Gericht ging.
Vier Jahre zogen ins Land, bis er Recht und – wenngleich zinslos – seine Auslagen erstattet bekam: und zwar für zwei Abschleppvorgänge. Zwischendurch hatte er noch einmal an derselben Stelle geparkt ...

Andreas Drouves
Im April ist das Buch ´Selbstversuch Spanien´ von Andreas Drouve erschienen.
Mehr Infos unter:
http://www.conbook-verlag.de/selbstversuch_spanien.html und
www.selbstversuch-spanien.de

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