Weihnachtsprägung

12.12.2014 - Andreas Clevert 

Prägung ist ja nach Konrad Lorenz etwas, was unbewusst in frühester Kindheit geschieht. Ich nehme mal an, dass meine Babyschale und später dann mein Kinderhochstuhl November-Dezember immer dem Adventskranz, der Krippe und dem Weihnachtsbaum zugewandt waren. Es gibt da ein Schwarz-Weiß-Bild von mir aus Babyjahren, wo ich praktisch in die Krippenfiguren hinein robbe.
Wikipedia sagt, dass Prägung eine irreversible Form des Lernens sei. Reize der Umwelt (also Plätzchen backen, Nikolausbart zupfen, Verstecken vor Knecht Rupprecht, ein Hexenhaus aus Lebkuchen bauen, etc.) werden dadurch dauerhaft in das Verhaltensrepertoire aufgenommen, dass sie später wie angeboren erscheinen. Prägung sei dadurch gekennzeichnet, dass sie nur in einer bestimmten Zeitspanne stattfinden könne, die daher als sensible Lebensphase bezeichnet werde. Prägung sei also nicht nachholbar. In welchem Alter diese Phase nachweisbar sei und wie lange sie dauere, könne je nach Tierart sehr unterschiedlich sein.“

 

Bei meiner Tierart Homo Patris Familiae war diese Phase lange abgeschlossen, bevor ich in die spanischen Weihnachtsbräuche eingeführt werden musste. Leider versteht das in meiner angeheirateten, spanischen Sippschaft niemand. Typisch: Konrad Lorenz war ja auch kein Spanier.  Auf Spanisch heißt diese eingeheiratete Menschengruppe im Übrigen trefflich „familia política“. Politisch diplomatisch geht es deswegen bei uns besonders zu, wenn mal wieder die Frage ansteht, wo unsere deutsch-spanische Familie das Weihnachtsfest verbringt. Spanien oder Deutschland. So manches politische Gipfeltreffen würde ich leichter einfädeln als dieses familiäre Großereignis.

 

Klar, Weihnachten in aller Welt hört sich klasse an. Lese ich auch immer wieder gerne darüber: Eingekuschelt in eine Decke, Weihnachtstee vor mir stehend. Ein Kerzlein brennt. Vielleicht auch ein Tannenzweiglein mit Strohstern dazu. Wohlig läuft dem unbedarften Deutschen ein Schauer über den Rücken, liest er vom Stellenwert des spanischen Festmahls zu Weihnachten. Aha, und die Feierlichkeiten ziehen sich bis zum Heilig-Drei-Königstag hin. Wow. Bleiben Sie mal in Ihrer Decke eingekuschelt!

 

Ich kann Ihnen aus mehrjähriger, direkter Madrider Weihnachtserfahrung sagen, dass die Realität sehr ernüchternd sein kann. Meine sämtlichen, irreversiblen Prägungen werden da  achtlos überrollt, wenn der Plastiktannenbaum circa ab Ende November in der Ecke steht. Krippe gleich dazu, warum nicht. Und die Überraschung, die Vorfreude, die Anspannung auf das erstmalige Kerzenanzünden am Heiligabend? Iwo, und das mit den echten Kerzen ist sowieso hoch gefährlich. Weiß nicht, wie das die Deutschen überhaupt tun, so etwas Unvernünftiges. Tja und mit dem Essen, das ist eine Aneinanderreihung von Höhepunkten: Festagsmenüs für eine 20-köpfige spanische Familie am 24.12. / 25.12. / 31.12/ 1.1. / 6.1. – um mal das gastronomische Minimalprogramm für die Feiertage in Spanien stichwortartig abzuhandeln. Ein Arbeitstag in einem Vier-Sterne-Restaurant kommt mir da im Vergleich wie eine einfachere Übung vor. Magentechnisch ist vor allem das Festmahl am 1. Januar eine große Herausforderung. Kaum, dass man ein paar Stunden Verdauungsschlaf hinter sich hat.

 

Aber es tut gut zu wissen, dass es andersherum auch solche Prägungen gibt. Sie hätten mal das Gesicht meines spanischen Schwiegervaters sehen sollen, als im Überschwange der Einkaufsfreude seine Gattin von einem deutschen Weihnachtsmarkt eine ca. 1,20 m hohe Weihnachtspyramide mitbrachte. Ich habe das leise in mich hineinlächelnd genossen.
Himmel, das sollte eigentlich eine Papaglosse werden. Nun, hier steckte das Kind im Manne.

 

Andreas Clevert lebt mit seiner spanischen Frau und drei Jungs (6, 4 und knapp 2 Jahre) in Bonn und Madrid. Er ist gefühlter Elterngeldveteran mit 36 Monaten Väterzeit und fällt damit aus den Charts des Bundesfamilienministeriums. Ach ja, natürlich hasst er den Begriff ‘Vätermonate’.
www.vaterdasein.wordpress.com

Kommentare (0) :

Blog kommentieren
Blog-Archiv
  • 09.11.2020 [Kommentare: 2]

    Corona-Bombe

    „Kannst du Emma heute von der Schule abholen?”, erreichte mich unerwartet eine Nachricht von Emmas Vater Hugo, als ich erst gefühlte fünf Minuten im Büro war und noch nicht einmal ansatzweise ein Viertel meiner täglichen Festivalarbeit erledigt hatte.. Blog weiterlesen

  • 05.10.2020 [Kommentare: 0]

    Klassengesellschaft

    Neulich saßen wir mit unserem diesjährigen Festivalteam, das aus Luis, mir und drei Praktikanten besteht, in der Pause wieder in unserem Stammcafé in Alcalá, San Diego Coffee Corner, ein modernes Lokal an einer der Ecken der zentralen Plaza de los Ir.. Blog weiterlesen

  • 03.06.2020 [Kommentare: 0]

    Die Suche nach den Schuldigen

    Jetzt weiß ich, wieso ich während der Quarantäne nach Jahren endlich wieder gut und fest schlafen konnte, der Geräuschpegel war zehn Wochen lang deutlich niedriger. Am ersten Freitag in Phase 1 war wieder einiges los auf den Straßen Montecarmelos... Blog weiterlesen

  • 26.04.2019 [Kommentare: 0]

    Spanien bringt mich in Versuchung

    Schon seit fast einem Jahr bin ich zur vegetarischen Ernährung übergegangen, aus ethischen und ökologischen Gründen. Das heißt, ich versuche es zumindest. Mir war schon bewusst, dass es in Spanien etwas schwieriger werden würde – aber, dass ich so.. Blog weiterlesen

  • 04.02.2019 [Kommentare: 0]

    Die Chinos – eine Welt für sich

    Als ich neulich mit einer Freundin von Zuhause telefonierte, erwähnte ich beiläufig den Chino in meiner Straße. “Chino?” fragte sie. Ach ja – die Chinos haben wir ja in Deutschland gar nicht. Doch wie beschreibt man dieses “Phänomen” am besten? Die.. Blog weiterlesen

  • 14.01.2019 [Kommentare: 0]

    Es ist nie zu spät!

    Immer wieder die gleiche Diskussion: “¡A las 7 de la tarde no se cena!” – Um sieben Uhr nachmittags isst man noch kein Abendessen! “Ich hab aber jetzt schon Hunger!” “¡Es porque has comido hace horas!” - Du hast ja auch schon vor ‘ner Ewigkeit .. Blog weiterlesen

  • 08.08.2018 [Kommentare: 0]

    Im deutschen Exil – ganz scharf

    Manchmal lebt unsere Familie ja das deutsch-spanische Kauderwelsch. In sämtlichen Belangen. Sei es, dass der Nachwuchs sprachlich spanische Dörfer für mich auffährt: Papa, kannst Du mir endlich die Kuchenfarben bringen?? Was, wie?! [Papa sucht.. Blog weiterlesen

  • 04.07.2018 [Kommentare: 0]

    Von der WM zur Ahnenforschung

    Nach dem Ausscheiden der deutschen und nun der spanischen Nationalmannschaft wird es natürlich für unsere deutsch-spanische Familie ganz schwierig mit dem Weiterfiebern. Doch die Jungs halten ganz gut mit. Zu EM 2016-Zeiten nach dem Aus der Deutschen.. Blog weiterlesen

  • 27.11.2017 [Kommentare: 0]

    Rosamunde Pilcher im spanischen Fernsehen

    Als ich einmal an einem Nachmittag am Wochenende wahllos durch das spanische Fernsehprogramm zappe, werde ich plötzlich stutzig: Sind das nicht deutsche Schauspieler da auf dem Bildschirm? Heißt das etwa, dass ich mir gute deutsche Filme im.. Blog weiterlesen

  • 16.10.2017 [Kommentare: 0]

    Pendeln im Fernzug

    Es ist 06:42 Uhr und der Fernzug AVANT setzt seine Fahrt in Richtung Madrid nach einem kurzen Aufenthalt in Ciudad Real fort. Er ist fast komplett ausgebucht, aber von Chaos bei der Sitzplatzsuche keine Spur. „Wie praktisch! Ich muss ja gar nicht um.. Blog weiterlesen