Wenn das Gemächt in der Hotelsauna in die Hose und die barbusige »Milchjungfrau« ins Museum gehört

09.03.2012 -  

Nackt gleich unmoralisch? Erregend oder Erregung öffentlichen Ärgernisses? Im Zweifel kommt es auf Kunst oder Wirklichkeit an

Im letzten Moment bremste mich das Schild und gebot mir Einhalt, die Sauna des Stadthotels in Barcelona textilfrei zu betreten: »Verehrter Kunde, wir informieren Sie, dass es nicht gestattet ist, diese Einrichtungen nackt zu benutzen. Danke. Die Direktion.« Unmissverständlich stand es sogar auf Englisch da – und es war nicht zum ersten Mal in Spanien, dass ich solch einen Hinweis zum Sittenkodex ausgemacht hatte.

Während ich mich an eine Freizeitbadsauna im Allgäu erinnerte, in der es ausdrücklich untersagt war, sie bekleidet zu betreten, fragte ich mich, ob Spanier tendenziell unnackt in eine Hotelsauna gehen. Ich schaute mich um. Niemand sonst war da, nirgendwo eine Notausgabestelle von »Feigenblättern für Saunabenutzer im Adamskostüm« zu sehen. Obwohl per Schild keine Strafe für den Sündenfall in künstlicher Hitze angedroht wurde, huschte ich zurück in die Umkleide und opferte den züchtigen Vorgaben einen Slip, um die primären Geschlechtsmerkmale wieder gut zu verpacken.

Man will ja nichts raushängen lassen, an dem sich andere stoßen könnten, aber trotzdem: Weshalb so verklemmt?, fragte ich mich weiter, als ich in der Einsamkeit der holzverkleideten Großraumkabine begann, den Baumwollstoff der Unterhose zu durchtränken – für mich ein eher ungewohntes Gefühl, noch dazu in der Sauna. Welche Komplexe mochten die Hoteldirektion plagen? Und hatte ich nicht tags zuvor im Touristenbüro einen Internetverweis zu »Gay und Lesbisch in Barcelona« ausgemacht ...?

Das Pendel zwischen Auf- und Zugeknöpftheit schlägt in Spanien in sonderbaren Extremen aus. Einerseits sind stillende Mütter wegen Verstößen gegen die Normen vom Personal in Schwimmbädern und Museumssälen unsanft ermahnt oder gar des Feldes verwiesen worden. Andererseits begegne ich in denselben Museen – und sogar in Kirchen – gelegentlich Darstellungen der Gottesmutter Maria, die sich alles andere als puritanisch gibt. Frei von Schambarrieren, steht man ihr als »Jungfrau von der Milch«, Virgen de la Leche, gegenüber. Im Beisein des wohlgenährten Jesuskindes ist ein Busen entblößt und der Hügel samt Warzenhof so realistisch gestaltet, als habe die Heilige den Malern und Bildhauern einst leibhaftig Modell gestanden.

Sakralkunst, eine Nummer für sich. Auf manchen Ölbildern spritzt aus der linken Brust gar der Muttermilchstrahl hervor – Maria als Symbol der Barmherzigkeit, als Spenderin des Lebens, als öffentliche Kampfstillerin, als Vorreiterin des Feminismus. Der Barockmaler Peter Paul Rubens verewigte das Motiv der Milchjungfrau in seiner »Entstehung der Milchstraße«, die ebenso wie Goyas »Nackte Maja«, die sich begattungswillig auf einem Sofa ausstreckt, zu den Vorzeigewerken im Madrider Prado-Museum gehört. In der Abteilung Archäologie bekommt man es unten ohne mit genitalen Seilschaften aus Jünglings- und Götterskulpturen der Griechen und Römer zu tun. Da fällt es schwer zu glauben, dass es an selber Stelle im Prado bereits zu Brustalarm, sprich: zu Konflikten mit Stillerinnen, gekommen ist.

Kontraste zu Spaniens Wirklichkeit wirft auch der Kreuzgang im Benediktinerkloster von Samos in Galicien auf. Verwundert betrachte ich stets die Fuente de las Nereidas, jenen »Brunnen der Nymphen«, auf dem die Steingeschöpfe über Hüfthöhe unverhüllt ihre Reize zeigen. Üppigst ausstaffiert, liegt hier Holz für einen strengen Winter vor der Hütte und zeigt zu allen Seiten des Kreuzgangs hin. Ich tippe auf Körbchengröße E. Ein ortsansässiger Mönch namens Juan Vázquez war es, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts detailgetreu die Entwürfe fertigte und den Aufbau des Nymphenbrunnens überwachte. Nährboden für Spekulationen muss bleiben, ob das Ensemble damals einzig der Vorstellungskraft des Mönchs entsprang und ob es heute den letzten verbliebenen Ordensbrüdern eine Handreiche zur Fantasie in ihr enthaltsames Leben bringt.

Wir lernen, dass in Spanien alles an seinen Platz gehört: das Gemächt in der Hotelsauna im Zweifelsfall in die Hose, das Tummelbecken barbusiger Nymphen in einen Kreuzgang der Benediktiner, Maria als »Milchjungfrau« in Museen, aber der Typus der Echtstillerin möglichst weit weg vom Publikum. Und das gepaart mit dem Hintergrund, dass im wahren Leben kaum jemand unberührt an den Traualtar tritt, an offiziellen Nudistenstränden Hüllen und Hemmungen fallen und unter »Gay und Lesbisch in Barcelona« im World Wide Web niemand ein Blatt vor den Mund nimmt, wie ich zwischenzeitlich feststellen durfte: von den besten Anmachtreffs der Stadt bis hin zu Dark Rooms in Saunen wie »Thermas«.

Dort wurde meine telefonische Nachfrage heute mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Es sei »unüblich«, so hieß es, in den Räumlichkeiten Kleidung in Form von Unterhosen oder Ähnlichem anzubehalten, aber gegebenenfalls könne dies anderen Gästen gefallen. Unter solchen Vorzeichen bekommt das Verbotsschild in der Hotelsauna eine ganz andere Note ...

Andreas Drouve

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Mehr Infos unter:
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