Wir sind keine Kinder

13.06.2016 - Karin Sommer 

Heute möchte ich meine Stimme Adela geben.

 

Sie lebt in Vall d´Hebron und ist mit 86 Jahren meine älteste Klientin.  Sie lernt einiges von mir, aber ich mindestens ebenso viel von ihr.

 

Vor zwei Wochen musste sie ins Krankenhaus eingeliefert werden, weil ihr Herz alt und müde ist, und in letzter Zeit auch etwas ausser Rand und Band geraten.

 

Als sie wieder zu Hause war, berichtete sie mir in allen Einzelheiten von ihren Erfahrungen im Spital. Sie ist sich sehr der Tatsache bewusst, dass dort Personalmangel herrscht und dass die dort arbeitenden Menschen die PatientInnen so gut wie möglich betreuen.

 

Trotzdem war es hart für sie, mit wie wenig Feingefühl ihr Körper bewegt, gewaschen oder umgebettet wurde. Sie fürchtete sich vor den Krankenschwestern, weil es neben den nicht zu vermeidenden Schmerzen auch die vermeidbaren waren, die mit ihnen das Zimmer betraten.

 

Was sie aber am meisten gestört hatte, war etwas Anderes. Es war das eigentlich nett gemeinte „Bon día, reina. Que bien te has portado hoy.“ Ich sah ihre Fassunglsosigkeit, als sie mir davon erzählte und hinzufügte: „Die behandeln uns wie Kinder. Guten Morgen. Wie brav du heute warst“, kann doch im Ernst niemand zu mir sagen? Wir sind alt, aber deswegen können sie uns doch nicht wie Kinder behandeln. Sie behandeln uns wirklich wie Kinder“, sagte sie noch einmal.

 

Ich spürte, wie sich ihre Würde gegen diese Behandlung auflehnte, wie wütend sie darüber war, dass Menschen so schnell vergessen können, was es heisst, einem alten Menschen mit Respekt zu begegnen. Etwas, das in jeder Situation unangebracht ist, aber besonders wehtut, wenn es in ungeschützten, verletzlichen Augenblicken passiert.

 

Deswegen möchte ich heute Adela meine Stimme geben. Weil ich meinen Kopf neige vor den vielen Jahren, die sie hier auf diesem Planeten verbracht hat, und vor der Lebenserfahrung, die das mit sich bringt. Und besonders deshalb, weil in ihrer Erzählung über ihre Erlebnisse im Krankenhaus so viel Verständnis für die Situation des Personals mitschwingt. Deshalb wünsche ich mir dasselbe Verständnis für sie und alle anderen betagten Menschen.

 

Die Erfahrung in einem öffentlichem Krankenhaus, egal ob in Deutschland oder Spanien, ist eine Sache. Es muss ohne Zweifel viel Menschlichkeit in das bestehende System gebracht werden, damit Patienten und Angestellte ein würdigeres Dasein fristen können.

 

Die allgemeine Tendenz, alte Menschen wie Kinder zu behandeln, ist eine andere. Sie sind keine Kinder. Sie können möglicherweise nicht mehr alleine für sich sorgen, aber sie sind alte Menschen, die eine andere Ansprache als Kinder brauchen.  „Guten Morgen, Adela. Wie geht es Ihnen heute?“ würde einen wunderbaren Beginn darstellen.

 

*Karin Sommer ist Österreicherin und lebt seit 11 Jahren in Barcelona. Sie lehrt Menschen, ihr Leben mit Freude zu leben.

Mehr von ihr unter www.karinsommerbcn.com

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