HINTERGRUND: Meer Hoffnung
12.06.2009 - Stefanie Claudia Müller
Seit mehr als 35 Jahren forschen Universitäten, Pharmakonzerne und Biotech-Unternehmen im Meer. Kein Wunder, im Wasser, das 70 Prozent des Planeten bedeckt, leben wesentlich mehr Organismen als auf der Erde, der Kampf unter den Spezies ist härter. Durch ungewöhnliche Lebensbedingungen wie wenig Licht, hoher Druck und starker Salzgehalt haben Algen, Schwämme, Seescheiden oder Pilze, die sich teilweise seit Jahrtausenden im Meer tummeln, äußerst aggressive Zerstörungsmechanismen gegen ihre natürlichen Feinde entwickelt, auch wenn sie äußerlich völlig harmlos aussehen.
Das hat den spanischen Wissenschaftler José María Fernández Sousa-Faro, Präsident des Madrider Biotechunternehmen Pharma Mar, bereits vor 20 Jahren fasziniert. Seit Ende der 80er Jahre sucht sein Forschungsteam in den Weltmeeren nach Organismen, deren Wirkstoffe mit höchster Präzision Krebszellen im Menschen zerstören. Bis jetzt hat Fernández Sousa-Faro, dessen Familie eine der größten Fischerei-Flotten der Welt besitzt, auf deren Ausrüstung und Wissen er stets zählen konnte, 650 Patente und 30 000 registrierte Meeresorganismen angesammelt.
Kein anderes Biotech-Unternehmen und auch die großen Pharmakonzerne, die sich wie Novartis erst seit jüngster Zeit intensiver mit marinen Stoffen beschäftigen, können soviel Erfahrung aufweisen. „780 weitere Anträge auf Patente laufen noch,“ sagt Fernández Sousa-Faro stolz. Sein größter Schatz ist der aus der in der Karibik beheimateten Seescheide
Ecteinascidia turbinata gewonnene Wirkstoff ET-743. Aufsehen erregt in der Medizinwelt vor allem der bisher einzigartige Aktions-Mechanismus: ET-743 blockiert das multi-drug resistence (MDR)-Gen, das bei einigen Krebs-Patienten für eine Resistenz der Tumore gegen viele Präparate sorgt.
Damit könnte das inzwischen unter dem Namen Yondelis für bestimmte Krebsarten zugelassene Medikament besonders effektiv bei einer sogenannten Cocktail-Therapie werden, wo es nach den Ergebnissen der klinischen Erprobungsphasen auch eine gute Kompatibilität mit den gängigen Mitteln wie Taxol aufgewiesen hat. Noch verwunderlicher war für viele der zweite Aktions-Mechanismus: Über die Aktivierung des NER-Mechanismus (Nukleotid Excision-Reparatur), bei dem DNS-Bausteine, die zum Beispiel durch UV-Einstrahlung geschädigt wurden, aus dem Erbgut ausgeschnitten werden, bewirkt ET-743 den Tod der Tumorzellen. Der Wirkstoff haftet sich an die Guanin-Bausteine der Gene an und bewirkt so, dass die Zelle zwar ihren Reparaturmechanismus über die Enzyme in Gang setzt, ihn jedoch nicht ausführen kann und die Zelle schließlich abstirbt. „Ein überraschender Fund,“ sagt Yves Pommier vom Nationalen Krebsinstitut in Bethesda, der als einer der Entdecker dieses Mechanismus gilt: „Das ist nicht nur wichtig für die Onkologie, sondern auch für die Grundlagenforschung.“
Auch Patrick Schöffski, Professor an der Medizinischen Hochschule in Hannover, hält ET-743, das er selbst an einigen Patienten getestet hat, für eines der interessantesten Krebsmedikamente, die derzeit vor der Zulassung stehen: „Es ist allerdings noch ein Nischen-Präparat, das derzeit vor allem bei den eher seltenen Weichteil-Sarkomen Effizienz gezeigt hat.“ Von der Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln (EMEA) hat das Medikament, das bereits an über 1 300 Patienten in 50 verschiedenen Krankenhäusern in Europa und den USA getestet wurde, für diese Krebsarten bereits den Orphan Drug-Status bekommen. Das heißt, es gibt für diese Tumore, die zum Beispiel unter der Haut, im Fleisch oder an den Knochen auftreten, kein anderes vergleichbar wirksames Präparat. Genau für diesen Bereich wurde zunächst auch nur die Zulassung beantragt. Ein schwieriger Prozess. Die Prüfer können kein zweites Medikament als Referenz heranziehen. Zudem kann ET-743 zunächst nur bei vorbehandelten Patienten eingesetzt werden.
Bisher werden Meeresorganismen vor allem bei der Herstellung von Vitaminpräparaten, in der Kosmetikindustrie und als Antibiotika eingesetzt. Hier seien vor allem Algen, Schwämme und Pilze von Bedeutung. Brümmer ist einer der zahlreichen deutschen Professoren, die das vom Technologieministerium geförderte Projekt Biotecmarin (
www.biotecmarin.de) stützen. Ein aus einem Universitätenverbund gegründetes Start up, das zukünftig auf den Spuren von Pharma Mar wandeln will: „Natürlich werden wir den Vorsprung der Spanier nie aufholen können.“ Gerade wurde das erste Patent angemeldet.
Für den Pharmazie-Professor Peter Proksch von der Universität Düsseldorf, der ebenfalls mit marinen Schwämmen forscht, ist das große Verdienst der Spanier vor allem, „dass sie es geschafft haben, durch Partialsynthese den Nachschub des Wirkstoffs zu sichern, wenn das Medikament wie geplant im kommenden Jahr am Markt anschlägt.“
Viele sehr effektive marine Naturstoffe kommen nur in Spurenmengen vor, weswegen die chemische Kopie des Mechanismus äußert wichtig ist, will man nicht unter hohen Kosten den Organismus in Meeres-Plantagen züchten. Daran seien viele andere Labore vorher gescheitert. Pharma Mar habe es sogar geschafft, einen Prozess zu finden, der die dafür nötige Zeit und den Aufwand enorm verkürze.
Forschungen der The Children’s Oncology Group in Kanada zeigen, dass das Präparat auch für Kinder verträglich und effektiv ist. In einem Fall eines Ewing-Tumors, bösartigen Krebszellen im Knochen oder in den Weichteilen, konnte sogar eine vollständige Heilung erzielt werden. Auch bei Brustkrebs hat das Medikament in der zweiten klinischen Phase der Erprobung bereits gute Resultate gezeigt.
Bei Onkologie-Kongressen werden zudem immer wieder die meist leichter zu handhabenden Nebenwirkungen von ET-743 im Vergleich zu anderen gängigen Chemotherapien hervorgehoben. Manzanares: „Natürlich gibt es auch hier unangenehme toxologische Reaktionen wie Durchfall und schwere Übelkeit, aber sie führen meist nicht zu dem von vielen als schrecklich empfundenen Haarausfall, Lähmungserscheinungen oder der Verschleimung der Atemwege.“
Das sei vor allen in Märkten wie Japan wichtig, wo die Menschen nicht wollen, das man ihnen die Krankheit ansieht. Zudem kann das Medikament in der Langzeittherapie eingesetzt werden. Manzanares: „Wenn wir von einem Verabreichungszyklus von drei Wochen ausgehen, dann sind nach unseren Forschungsergebnissen bis zu 23 Injektionen bei einem Patienten möglich, ohne diesen zu vergiften.“ Normalerweise kämen die meisten Standard-Präparate nur auf fünf. Für den 39-jährigen Meeresbiologen Bulent Kuruku, Expeditionsleiter bei Pharma Mar, ist die Erklärung für die bessere Verträglichkeit von Medikamenten marinen Ursprungs einfach: „Schließlich hat auch das Leben vor mehr als drei Milliarden Jahren im Meer begonnen. Unser Körper nimmt diese Wirkstoffe besser auf.“
Ebenfalls erfolgversprechend scheint der Wirkstoff Aplidin, gewonnen aus der im Mittelmeer lebenden Seescheide
Aplidium albicans. Das Medikament, dessen Zulassung für die Behandlung von Schilddrüsenkrebs bereits in zwei Jahren beantragt werden soll, befindet sich derzeit in der zweiten Phase der klinischen Erprobung. Hier zeigt es großen Erfolg bei der Verhinderung von Metastasen-Bildung. Es deaktiviert das VEGF-Enzym, das für die Bildung von Blutgefäßen zuständig ist und schnürt somit die Nahrungszufuhr des Tumors ab. Laborforschungen haben zudem ergeben, dass Aplidin ebenfalls zerstörerisch bei menschlichen Leukämiezellen wirkt.
Der bedächtige und nachdenkliche Pharma Mar-Präsident Fernández Sousa-Faro, der in 2000 von dem britischen Magazin zum ethischsten Unternehmer gewählt wurde, will sich jedoch seinen Enthusiasmus nicht nehmen lassen : „Nach 20 Jahren Forschung können wir nun unser Wissen öffentlich zugänglich machen, Massen von Menschen rund um den Erdball mit unseren Produkten helfen. Damit ist ein Lebenstraum für mich in Erfüllung gegangen.“