SCHREIBWETTBEWERB: Lichtschatten
24.08.2009 - Elisabeth Pacho
Es ist noch nicht einmal 9 Uhr und schon heiß. Die Wartehalle des Bahnhofs in
San Sebastian platzt schon aus allen Nähten. Es ist Hochsaison. Eine Gruppe kurzbehoster Touristen schiebt sich schwitzend und fluchend in Richtung Bahnsteig.“Starkes Stück, dass hier keiner Deutsch spricht“, höre ich noch im Vorbeigehen.
Hoffentlich nicht unser Zug, nicht unser Abteil, denke ich nur. Deutsche im Ausland sind wirklich nicht immer leicht zu ertragen. Und manchmal schäme ich mich sogar ein bisschen für sie, denn schließlich bin ich ja selber eine oder wenigstens halbwegs. Mutter ist Deutsche, Vater Spanier. Wie jedes Jahr stehe ich auf diesem Bahnhof, und wie jedes Jahr frage ich mich, ob ich nach Hause fahre oder von zu Hause weg.
Was auf einem Faschingsball im Spanischen Kolleg in München begann, erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt am 22. Juni 1992 im Krankenhaus am Tegernsee. Die Wehen kamen alle drei Minuten und es wurde schnell klar, dass für mich die kürzeste Nacht des Jahres mit einem Ortswechsel einhergehen sollte – drei Wochen früher als geplant. Und so fing alles an.
Mit drei Monaten machte ich zum ersten Mal diese Reise von Spanien an den Tegernsee. Später immer im kinderfreundlichen Autoreisezug, weil meine Eltern dem während der Autofahrt leidigen Gefrage danach, wann wir endlich daseien, von vorne-herein einen Riegel vorgeschoben haben. Zwei mal im Jahr sehe ich, wie die Häuser San Sebastians an dem Wagonfenster vorbeisausen. Es ist Juli, meine Kleider kleben am ganzen Körper, weil die Klimaanlage mal wieder nicht funktioniert, und ich habe noch eine lange Reise vor mir.
Meine Eltern und ich, suchen unser Abteil. In einem Abteil eine Menge Kinder im nächsten riecht es nach Bier. Eine hübsche Reise wird das wieder mal, wie es so aussieht! Bis wir endlich unser Abteil finden, haben wir schon alles Mögliche an Menschlichem erlebt. Neben uns ein altes Ehepaar, auf der anderen Seite eine Familie mit drei Kindern. Das ältere Paar sind Deutsche, die Familie hingegen Spanier und wir in der Mitte – wie lustig!
Die Kinder der Familie haben Ferien und freuen sich offensichtlich darüber. In meinem Fall war das alles nicht so ganz einfach. Mit drei Jahren kam ich in San Sebastian in den Kindergarten der Deutschen Schule San Alberto Magno. Damals war ich schon die Ausländerin der Klasse. Als es dann Sommer wurde und wir im Juni nach Bayern reisten, wo Kindergarten und Schule erst Ende Juli zu Ende gingen, hieß es für mich wieder in den Unterricht zu gehen. Eingefädelt wurde das alles wohlweislich von meiner Mutter, denn sie wollte kein zu Tode gelangweiltes Kind um sich haben.
Natürlich war ich auch dort wieder die Ausländerin. Das hat mich aber nie sonderlich
gestört. Gegen Ende der Sommerferien musste man wieder zurück nach Spanien.
Weihnachten ging es dann wieder los in die Gegenrichtung. Die Ausnahme kam, als ich sieben Jahre alt war. Damals verbrachten wir ein ganzes Schuljahr in Deutschland. Ich muss zugeben, dass mir von diesem speziellen Jahr nicht viel in Erinnerung blieb. Ich weiß noch, dass ich dort in die Schule ging, aber sowohl an den Abschied von meinen spanischen Freunden wie auch später von den Deutschen kann ich mich nicht erinnern.
Lediglich eine wichtige Erfahrung mit der deutschen Sprache, ist mir noch gegen-wärtig. Ich konnte zwar Deutsch, was aber am Tegernsee nicht wirklich weiter hilft. „Hier muast scho so redn wia mia!“, wurde mir unmissverständlich klar gemacht. Der Zug hält. Wir befinden uns auf einem kleinen Bahnhof irgendwo in Frankreich, und ich verstehe genauso wenig wie in den Schulpausen in Bayern. Mutter sprach schon immer Deutsch mit mir, dann auch Bayrisch, als ich stocksauer aus der Schule nach Hause kam und ihr vorwarf, mir die falsche Sprache beigebracht zu haben. Papa
hingegen spricht Spanisch mit mir.
„La fête“ steht auf Plakate überall am Bahnhof. Das verstehe sogar ich. Feten - ja,
Feten haben ich viele verpasst, bis ich mit zwölf Jahren zum ersten Mal rebellierte. Da
ich schon die ganzen Sommerferien in Deutschland verbringen musste, weigerte ich
mich zum ersten Mal in der Ferienzeit in Deutschland zur Schule zu gehen. Als ich
vierzehn Jahre alt wurde, kam es dann für mich auch nicht mehr in Frage, zwei ganze
Monate weg von San Sebastian zu sein.
Wie alle anderen wollte ich die „Semana Grande“ mitfeiern, und den ganzen Sommer meine Freunde nicht zu sehen, war für mich unvorstellbar. Spazierengehen am Tegernsee oder Feiern in der Altstadt von San Sebastian? In dem Alter ist diese Frage flott beantwortet. Es ist nicht so, als würde ich es nicht mögen, nach Deutschland zu reisen, und dass ich es nur mache, weil ich gezwungen werde. Das Leben ist einfach ruhiger in Deutschland als in Spanien, aber ich bin mehr an den spanischen Lebensstil gewöhnt. Nach Deutschland zu fahren und sich dort vom spanischen hastigen Leben etwas erholen zu können ist schön, aber letztendlich vermisse ich die Hektik und den Stress, an die ich hier gewöhnt bin.
Hektik habe ich jetzt genügend. Der Zug fährt gleich los, und so wie es aussieht ohne
mich. Rennen war noch nie meine Stärke, aber ich schaffe es noch knapp. Wäre wohl
besser im Zug geblieben. Jetzt muss ich nur noch unser Abteil finden. In jedem Wagon herrscht eine völlig andere Atmosphäre. Ich mochte es schon immer, die Leute zu beobachten, obwohl ich es nicht ausstehen kann, wenn man es mit mir macht. Kinder und alte Leute sind immer die interessantesten Objekte, sie sehen alles anders, haben einfach eine andere Perspektive. Sie erlauben einem hinter die Kulissen zu schauen und geben nicht vor jemand zu sein, der sie eigentlich gar nicht sind. In diesem Sinn bin ich oft neidisch auf sie.
Ich finde meine Eltern, und wir beschließen in den Speisewagen zu gehen. Er ist schon fast leer. Die Deutschen haben das Abendessen schon seit Stunden hinter sich, als wir bestellen. Warum die Deutschen zu Abend essen, wenn man sich in anderen Ländern gerade nach dem Dessert vom Mittagstisch erhebt, habe ich nie verstanden. Schweigend schaue ich mir meine Eltern an, die mir gegenübersitzen. Ich fand sie immer irgendwie interessant. Es gibt kleine als auch große Unterschiede zwischen ihnen, von Gewohnheiten bis zu Denkweisen. Meine Eltern selbst sind nicht
monokulturell. Vater hat fast sein ganzes Studium in Deutschland verbracht, und man
merkt, dass da schon etwas abgefärbt hat. Mutter hat mittlerweile einen großen Teil
ihres Lebens in Spanien verbracht. Allerdings sind sie in fast jedem Sinn genau das
Gegenteil.
Vater ist Philosoph und der ruhigste und ernsteste Mensch, den ich kenne. Mutter hingegen studierte Chemie und Landwirtschaft, ist immer fröhlich und in Bewegung, und besessen davon, immer alles schnell zu erledigen. Damit, dass jeder zu
einem anderen Land gehört, hatten sie, so weit ich weiß, noch nie Probleme. Obwohl
beide sehr tief mit der jeweiligen anderen Kultur verwurzelt sind, merkt man ihnen
immer an, dass sie „Ausländer“ sind, abgesehen von der Sprache. Bei mir sieht man
dies, so viel ich weiß, nicht so deutlich. Dass aber etwas, wie gesagt, mit mir nicht
stimmt, das merken alle gleich. Das will ich aber auch nicht ändern.
Das Essen kommt auf den Tisch, und damit auch ein Hinweis darauf, dass wir
mittlerweile in einem deutschen Zug reisen. Das Essen bestehend aus Salat, Fleisch, Kartoffeln und Sauce alles vermischt auf einem Teller angerichtet. In Spanien hingegen werden Vorspeise und Hauptgericht auf getrennten Teller serviert. Am Anfang des Essens fühl ich mich wie immer sehr komisch. Aber es ist angenehm, wieder so ein Essen zu sich nehmen zu können, das völlig anders schmeckt, als das deutsche Essen, das wir in Spanien zubereiten. Es schmeckt alles anders, einfach richtig deutsch.
Wir unterhalten uns jetzt nur noch auf Deutsch, wahrscheinlich wegen des Essens. Und wieder gucken uns alle Mitreisenden im Wagon an, weil wir plötzlich nicht mehr auf Spanisch sprechen. Alle haben mir schon immer gesagt, dass es ein Vorteil sei, in zwei verschiedenen Ländern aufgewachsen zu sein. Warum sie das sagen und ob es wirklich so ist, ist mir nicht so klar. Das ich sprachliche Vorteile gegenüber den anderen habe, ist kein Zweifel. Nirgendwo richtig hinzugehören, ist aber auch nicht gerade ganz einfach. Als Mensch hat mich diese Spaltung natürlich beeinflusst. Ich wäre nicht derselbe Mensch geworden, wenn ich nur in einem Land aufgewachsen wäre.
Papa bestellt gerade Brot, ohne das kann er einfach nicht leben, Mama hingegen
attackiert sofort den Salat und das Brot rührt sie nicht mal an, Mama ist mehr der
Kartoffelmensch. Das Tischgespräch dreht sich mal wieder um das Lieblingsthema
meiner Eltern: meine Zukunft. Meine Eltern sind davon überzeugt, dass ich in
Deutschland studieren sollte, was sicher viele Vorteile hat, aber ob es das wirklich ist,
was ich will, weiß ich noch nicht.
Am Fenster unseres Abteils ziehen die Vororte Münchens vorbei. „Gleich sind wir zu
Hause“, sagt meine Mutter erfreut. Zu Hause? „Ostbahnhof München, Endstation des
Autoreisezuges“, kreischt mir ein Lautsprecher ins Ohr und beendet damit jeden
weiteren Gedanken zum Thema. Mama fängt sofort an geschäftig im Abteil
herumzuräumen. Auf dem Bahnhof Gedränge. Auch hier ist Ferienzeit. „¡Qué ya hemos llegado! “, brüllt ein Spanier durch die Bahnhofshalle. Spanier im Ausland sind wirklich nicht immer leicht zu ertragen und manchmal schäme ich mich sogar ein bisschen für sie.