SERIE: Spanien heute

29.05.2009 -  

Fernando Vallespín: Gesellschaftliche Veränderungen der letzten Jahre

...Die spanische Gesellschaft lässt sich zu Beginn des neuen Jahrtausends mit Anthony Giddens als “posttraditionale Gesellschaft” bezeichnen. Das bedeutet: Die Traditionen spielen noch immer eine große Rolle, sie werden allerdings “individualisiert”. Sowohl im familiären Bereich als auch bei der Religion zeigt sich, dass die individuellen Entscheidungen die objektiven Kriterien, die bis vor kurzem den Ausschlag gaben, ersetzen.

Die Personen entscheiden eigenständig, wie sie die Ehe, die Religionszugehörigkeit und andere Aspekte des Lebens handhaben. Die Bevölkerung fühlt sich frei, kirchlich oder zivil zu heiraten (beides hält sich praktisch die Waage), vor oder nach der Eheschließung Kinder zu bekommen, früh oder spät zu heiraten, auch Personen desselben Geschlechts. Bei der Religion sieht es ähnlich aus. Für viele erfüllt sie mit Taufe, Hochzeit und Beerdigung eine gleichsam dekorative, durch Tradition überlieferte Aufgabe; doch sie bindet nicht an eine gesellschaftlich verbindliche Moral oder einen Dogmatismus.

Was sich durchsetzt, ist ein Pluralismus der Lebensformen und damit das Gebot der Toleranz. Wenn wir wollen, dass unsere individuelle Lebensweise akzeptiert wird, müssen wir auch die der anderen respektieren. Nach der langen Erfahrung des Franquismus ist die spanische Gesellschaft nicht gewillt, Reglementierungen hinzunehmen. Niemand soll bestimmen, wie man lebt und sein Leben organisiert. Daher mag auch die politische Apathie rühren. Die Regierung Zapatero, die Autonomen Regionen und die Gemeinden haben verschiedene Initiativen ins Leben gerufen, um die politische Partizipation der Bürger zu fördern. Es ist zu früh, um Resultate erwarten zu können; bislang hat sich an der diesbezüglichen Lethargie noch nicht viel geändert.

Die spanische Gesellschaft ist pluralistisch und hat gelernt, mit den vielen (regionalen, kulturellen, ethnischen) Gegensätzen zu leben. Noch hat sie sich viele Eigenheiten bewahrt, die in den Augen der anderen Europäer die Spanier schon immer als “pittoreskes” Volk erscheinen ließen; doch abgesehen von einigen Bräuchen unterscheidet sich die spanische Gesellschaft nicht von der anderer europäischer Länder. Die alte Tourismus-Werbung “Spain is different” gilt heute höchstens noch für die Landschaft, den Stierkampf und die Essenszeiten.

Lesen Sie weiter in:
Walther L. Bernecker (Hg.)
Spanien heute, Vervuert Verlag Ffm 2008
ISBN 978-3-86527-418-2

Erhältlich bei Librería Iberoamericana www.ibero-americana.net

Kommentare (0) :

Artikel kommentieren
Artikel-Archiv